Tolstoi, A. K.
erwähnt, führt Gogols Erzählung „die Wiedergängerthematik in die russische Literatur“ ein (Bunson 2001: 111). Doch wenn man denkt, dass dieses Werk eines Landsmannes Tolstoïs auf diesen wohl einen wichtigen Einfluss hatte, so täuscht man sich. Der „Wij“ erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, eines Philosophiestudenten namens Choma Brut. Choma trifft auf einer Reise eine alte Hexe. Die alte Hexe reitet auf ihm (wörtlich) und später reitet er auf der Hexe. Die Nacht verstreicht und die Hexe bricht aus Erschöpfung zusammen, doch siehe da, es ist plötzlich eine schöne, junge Frau. Doch Choma lässt sie liegen und geht weiter nach Kiew. Ein paar Tage darauf wird er aufgesucht; die Tochter eines reichen Hauptmannes liege im Sterben und wolle, dass Choma drei Nächte lang die Totenmesse für sie halte. Gegen seinen Willen wird er auf das Gut des Hauptmannes geführt, wo er die tote Tochter wiedererkennt; es ist die Hexe, auf der er geritten war. Bereits am ersten Tag hört er seltsame Gerüchte über die Tote; sie sei eine Hexe gewesen und habe die seltsamsten Dinge angestellt. Drei Nächte lang hält er die Totenmesse in der heruntergekommenen Kapelle, wo die Tote untergebracht worden ist. Jede Nacht ist schrecklicher als die vorhergehende; die Tote wacht jedes Mal wieder auf. In der ersten Nacht ist sie „plötzlich ganz blau wie eine Leiche“ (Gogol 2012: 92), und versucht ihn zu umarmen. Sie sieht Choma nicht, der einen Zauberkreis um sich herumgezogen hat, und umarmt dafür jede Säule. Plötzlich kehrt sie zum Sarg zurück und fliegt in ihm durch die ganze Kapelle, doch als der Hahn kräht, fällt die Leiche tot in ihren Sarg zurück. Jede Nacht verschlimmert sich das Schauspiel. In der zweiten Nacht beschwört sie beflügelte Ungeheuer und ein Geisterheer und in der dritten Nacht, nachdem sie dieselben Kreaturen herbeschworen hat, ruft sie den Wij (8) . Der Wij sieht Choma trotz seines Zauberkreises und die Geister fallen über ihn her. Choma „stürzte entseelt zu Boden: die Seele hatte vor Angst seinen Körper im Nu verlassen“ (Gogol 2012: 120).
Die Geschichte unterscheidet sich grundsätzlich von der „Familie des Wurdalak“. Wiedergänger werden zwar in den drei Nächten der Totenmesse beschrieben, aber die Leiche selbst ist nicht unbedingt am Blut Chomas interessiert. Die Tote war zu Lebzeiten eine Hexe, dies wird eindeutig von den Leuten beschrieben. Eine Hexe hat nichts mit einem Vampir zu tun und doch wird in der Erzählung von einem Ereignis berichtet, das ganz eindeutig zum Vampirismus gehört:
Sie packte das Kind, biß ihm die Kehle durch und begann sein Blut zu trinken. […] das dumme Weib saß auf dem Dachboden […] nach einer Weile kam aber auch das Fräulein [die Hexe] auf den Dachboden hinauf, fiel über sie her und begann sie zu beißen. (Gogol 2012: 82)
Obwohl dies eine klassische Szene aus übertragenen Legenden über weibliche Vampire ist, hat sie dennoch nicht viel mit Tolstoïs „Wurdalak“ zu tun (es sei denn, man vergleicht die Szene zur Mutter, die ihrem jüngsten Sohn das Blut aussaugt). Das Einzige was wir aus Gogols Geschichte für Tolstoï als einflussreich betrachten können, ist die Absurdität gewisser Szenen. Vor allem die drei Nächte der Totenmesse sind sehr absurd beschrieben. Auch Tolstoï macht in seiner Endszene, d‘Urfés Flucht vor Sdenkas Familie, von Absurdität Gebrauch:
[…] als ich den alten Gorcha sah, der dank seines Pfahls Sprünge wie Tiroler Bergsteiger, wenn sie über Abgründe hüpften, machen konnte. Auch Gorcha blieb zurück. Seine Schwiegertochter, die ihre Kinder hinter sich herzog, warf ihm eines zu, das er auf seinem Pfahl auffing. Den Pfahl wie eine Balliste gebrauchend, warf er mit aller Kraft das Kind nach mir. Ich wich dem Wurf aus, aber mit einem richtigen Bulldoggeninstinkt biss sich die kleine Kröte im Hals meines Pferdes fest, ich konnte sie gerade noch wegreißen. (2012: 53-4)
Lequesne stimmt dem zu:
la métamorphose d’un conte français en conte russe, la métamorphose du réalisme et de la vraisemblance en un jaillissement d’images folles et obsédantes, — la métamorphose de la réalité en rêve, de l’angoisse en cauchemar (9) (1993 : 12)
Doch darüber hinaus können wir keine Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Erzählungen finden.
Gogols „Wij“ war die letzte Geschichte, die erschienen ist, bevor Tolstoï angefangen hat, den „Wurdalak“ zu verfassen. Somit ist die Suche nach direkten
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