Tolstois Albtraum - Roman
Balkon. Die weiteren Handlungen waren rasch und präzise und beanspruchten nur wenige Sekunden: Er goss etwas Leim auf eine Zeitung, klebte sie an die Glasscheibe der Balkontür, stieß kurz mit dem Ellbogen dagegen, verzog beim gedämpften Klang der splitternden Scheibe das Gesicht, steckte den Arm durch das Loch, drehte den Türgriff, öffnete die Balkontür, schlüpfte hinein und schloss die Tür hinter sich.
»Anscheinend hat niemand etwas bemerkt. Was nun?«
Er stand in einem Rauchsalon, dessen Luft von Zigarrenrauch geschwängert war. Auf einem kleinen Tisch an der Wand funkelten Flaschen mit bunten Getränken; Zigarrenkisten aus leichtem Balsaholz luden ins ferne Havanna. Es war niemand im Raum.
T. öffnete die Tür und betrat einen mit Porträts geschmückten Korridor. Perückentragende Kavaliere aus der Zeit Katharinas und Damen in dekolletierten Kleidern blickten unergründlich von den Wänden herunter.
Neben der Tür zum Rauchsalon befand sich der Eingang zu einem Schlafzimmer, in dem es nach einem zarten Damenparfüm duftete. Auch dort war niemand. Allenthalben herrschte eine besondere, leblose Stille, an der man spürte, dass das ganze Haus leer war. Diese Vermutung musste man allerdings überprüfen.
Der Korridor mündete auf der einen Seite in eine verschlossene Flügeltür – dahinter befand sich allem Anschein nach der Salon. Auf der anderen Seite führte er zu einer Marmortreppe, die ins Erdgeschoss hinunterging. T. stieg die Treppe hinunter und befand sich in einer mit italienischen Landschaftsgemälden und Marmor geschmückten Eingangshalle. Auf den Sockeln beidseits der Eingangstür standen eine riesige chinesische Vase mit der Zeichnung eines Wasserfalls und eine große Uhr.
T. ging zu der Vase, um die Zeichnung zu betrachten, als er plötzlich Alkohol zu riechen meinte. Dann vernahm er ein Geräusch hinter sich.
Er wandte sich um und erblickte einen dicken rostroten Kater, der auf einer Marmorstatue von Pallas Athene saß. Es war unbegreiflich, wie er dahin geraten war – es sei denn, er wäre vom Vorhang aus gesprungen. Dem Kater war es unbequem auf dem kleinen runden Kopf, aber die Inszenierung war eine so offensichtliche Anspielung auf Edgar Allan Poes Gedicht über den Raben, der sich auf einer Büste der griechischen Göttin niederlässt, dass T. sofort begriff, wen er vor sich hatte. Ohne ein Wort zu sagen, ging er auf den Kater zu, packte ihn beim Kragen, schüttelte ihn und hielt ihn sich dicht vor das Gesicht.
»Nun, Ariel Edmundowitsch? Zeigen Sie sich freiwillig oder soll ich Ihnen erst den Schwanz einklemmen?«
Offenbar hatte er die Haut am Hals allzu straff zusammengezogen, denn der Kater konnte nicht einmal mehr miauen. Die Antwort klang krächzend und gepresst:
»Es ist schwer mitanzusehen, Graf, wie tief Sie gesunken sind. Oder sind Sie der Meinung, der gewaltlose Widerstand gegen das Böse bedeutet, dass man sich der Finsternis, die der eigenen Seele entströmt, nicht widersetzen darf? Was für eine Schande! Sie waren auf dem Weg nach Optina Pustyn, und dann so ein Ende …«
»Aha«, versetzte T. »Angekommen, Ariel Edmundowitsch? Ausgezeichnet. Es ist Zeit für eine Aussprache …«
»Von mir aus«, erwiderte der Kater. »Lassen Sie uns reden. Aber gestatten Sie mir … Lassen Sie mich los, ich laufe schon nicht weg.«
T. ließ den Kater los. Er landete auf dem Boden, fing an zu wachsen wie ein Luftballon, veränderte seine Konturen – und bald stand Ariel vor ihm.
Dieses Mal sah er ziemlich bizarr aus. Er trug einen goldbestickten orientalischen Mantel, der von der Farbe her aussah wie ein Katzenfell, und die obere Hälfte des Gesichts bedeckte eine Katzenmaske aus Papiermaché, die so geschickt gemacht war, dass die darunter abstehenden Schnurrbarthaare aussahen, als gehörten sie noch zu der Maske.
Es war auf den ersten Blick zu erkennen, dass der Demiurg stark betrunken war.
»Das ist nicht besonders originell von Ihnen, mein Bester«, verkündete Ariel freundschaftlich und klopfte T. auf die Schulter. »Die Aufmerksamkeit des Schöpfers zu erregen, indem man das Geschöpf quält, ist eine verbreitete Form des Gottsuchertums. Da können Sie Dschingis Khan nehmen oder Napoleon oder einen anderen großen Eroberer … Für gewöhnlich jedenfalls drückt sich darin eine elementare kindliche Frömmigkeit aus. Genau damit – und nicht mit irgendeiner Freud’schen Scheußlichkeit – lässt sich erklären, warum Kinder mit Steinschleudern auf Spatzen
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