Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
Vom Netzwerk:
unglücklicherweise direkt auf seiner Stirn. Das ist kein Gesicht, grinste Dostojewski, sondern das Tausendjährige Reich. An der Schwelle zu Verfall und Zerstörung.
    Dostojewski spürte, wie die Begeisterung über diesen weiteren Beweis seiner Popularität der Niedergeschlagenheit wich.
    »So viele Falten!«, dachte er. »Zum Glück fällt das im Spiegel nicht so auf. Sonst würde ich mich jeden Morgen ärgern … Wie offensichtlich doch die Verbindung zwischen menschlichem Ruhm und irdischer Vergänglichkeit ist. Man strengt sich an, sich etwas vorzumachen, aber sie lassen einen ja nicht …«
    Und trotzdem wollte man sich gerne etwas vormachen. Er warf einen Blick in das Inhaltsverzeichnis, schlug die entsprechende Seite auf und sah die große Überschrift:
    FJODOR DOSTOJEWSKIS
    TODESREGELN
    Er ließ den Blick genüsslich auf den schwarzen Ecken der fetten Buchstaben verweilen, betrachtete sein Foto, das hier verkleinert (und darum nicht so deprimierend wie auf dem Cover) war, und begann im Vorgefühl diskreter und leicht verschämter Genugtuung, seine eigenen Aphorismen nachzulesen:
    – Sie werden im Leben vielen Dingen begegnen, die sich als ausgezeichnete, preisgünstige Waffe eignen. Nehmen Sie eine Kiste, ein Fass oder einen Ziegelstein und werfen Sie damit nach dem Feind.
    – Wenn Sie einem Feind Wodka und Wurst abgenommen haben, verschwenden Sie keine Patrone für einen Kontrollschuss – er wird sowieso bald an der Strahlung sterben.
    – Always aim for the head. You will do more damage.
    – Wenn einer am Boden liegt, kann man ihm leicht den Todesstoß versetzen.
    – Ein Dolch richtet geringeren Schaden an, aber man kann damit sehr schnell zustoßen. Außerdem können Sie lernen, sich unbemerkt anzuschleichen und dem Feind einen Stoß in den Rücken zu versetzen.
    – Vergessen Sie nicht, die Leichen zu durchsuchen, sie könnten Wodka und Wurst dabeihaben.
    – Nehmen Sie nie mehr als einen Schluck Wodka, um die Strahlung zu neutralisieren, sonst riskieren Sie, betrunken zu werden und den Feinden in die Hände zu fallen.
    – Versuchen Sie nicht, sämtliche Feinde zu töten, bevor Sie anfangen, die Seelen auszusaugen – eine rechtzeitig verschluckte Seele verleiht Mut und hilft, den Kampf zu Ende zu führen.
    – Verfrorene Feinde zerstückelt man am besten und wartet nicht erst, bis sie auftauen.
    »Hohlköpfe«, murmelte Dostojewski, als er den Fehler entdeckte, »Verfroren! Erfroren muss es heißen! Das ist doch wohl klar. Diese Stümper! Sogar hier ruinieren sie einem alles.«
    Die Lust weiterzulesen war ihm vergangen. Dostojewski schleuderte die Zeitschrift in die Ecke der getarnten Grube und zog eine finstere Miene. Das Unangenehmste war, zugeben zu müssen, dass er sich selbst etwas vormachte – er sprühte vor Wut über einen harmlosen Druckfehler, nur weil er sich über seine Falten geärgert hatte.
    Das subkutane Dosimeter fing an zu surren – wie immer urplötzlich. Fluchend zog Dostojewski eine Flasche Kognak aus der Tasche und nahm einen großen Schluck. Der Rest würde noch für einen weiteren Schluck reichen. Nach ein paar Sekunden wich das widerliche Surren einem leisen Geröchel und hörte dann auf, als hätte der stählerne Wurm unter der Haut sich am Alkohol verschluckt und wäre eingegangen.
    Der Alkohol ging zu Ende. Außerdem hatte er vor drei Stunden das letzte Stück Wurst gegessen. Es war Zeit für einen Ausflug.
    Dostojewski trat an die Feuerstellung. Vor dem Schützengraben lag ein mit Spielzeug behängter alter Weihnachtsbaum, aber die Abstände zwischen den Zweigen waren groß genug, um den gesamten Platz vor dem Schützengraben zu kontrollieren. Er setzte die Brille mit dem patristischen Visier auf und neigte sich über den Sucher.
    Von Westen her näherte sich wie auf Bestellung eine Gruppe toter Seelen. Wie üblich blieben sie dicht beieinander. Die toten Seelen waren an der gelben Aureole zu erkennen, die ihre Silhouetten umgab. Dieser diffuse gelbe Schein waberte nur um die menschlichen Gestalten herum; alles andere – die Laternenpfähle, die Tauben, die Litfaßsäule mit der Reklame für das neue Buch von Axinja Tolstaja-Olsufjewa – sah genau gleich aus, wenn man es mit unbewaffnetem Auge betrachtete.
    »Ein bewaffnetes Auge«, dachte Dostojewski seufzend. »Wie das klingt … Die Wissenschaft prescht voran. Und der Gesellschaftsgedanke – kann der vielleicht mit etwas aufwarten, was dem technischen Fortschritt gleichkommt?«
    Die toten Seelen waren schon bis

Weitere Kostenlose Bücher