Tolstois Albtraum - Roman
eine der Bühnen verschwindet, auf der die zweiundzwanzig Mächte ihre Rollen spielen. Aber dieselben Kräfte nehmen weiterhin an Milliarden anderer Vorstellungen teil. Deswegen passiert also nichts Schlimmes.«
»Sie haben nur vergessen zu fragen, was die Bühne selbst darüber denkt«, bemerkte T. »Die Bühne, die da verschwindet.«
»Egal, was sie denkt und wie sehr sie leidet, das alles machen die Mächte für sie. Es gibt sonst niemanden. Außerdem verschwindet die Bühne nicht sofort. Eine Zeit lang bleibt noch etwas zurück … ein gewisser … so etwas wie eine Spur im feuchten Sand oder ein Lichtreflex auf der Netzhaut des Auges.«
»Und auf wessen Auge?«
»Da muss ich passen, Graf. Außerdem ist es schließlich nur ein Vergleich. Sagen wir doch, es bleibt ein Lichtschimmer, ein mentaler Nebel. Eine Art Nachhall der individuellen Existenz. Das hält nicht lange an, aber mein Großvater sagte, es sei eine wunderbare, zauberhafte Zeit. Gerade in dieser Zeit kann der Mensch sich seinen sehnlichsten Wunsch erfüllen. Egal welchen.«
»Vollkommen egal?«
»Ja. Er kann sich alles Mögliche wünschen, weil die Beschränkungen verschwunden sind, die zu Lebzeiten gelten. Wenn Sie einen Körper haben, gibt es nur eine Realität für alle Menschen. Aber wenn Sie keinen Körper mehr haben, gibt es nur noch Ihr persönliches Universum, das niemandem im Wege ist. Es weiß ja niemand etwas darüber. Und der Geist kann jetzt nach allem Möglichen streben.«
»Das hört sich natürlich interessant an«, sagte T. »Aber Ihr Großvater sprach doch von echten Menschen?«
»Stimmt. Was mit einem Romanhelden ist, wenn das Autorenteam aufhört, ihn zu erfinden, weiß ich auch nicht. Vielleicht gilt in eingeschränkter Form für Sie etwas Ähnliches … Obwohl Sie überhaupt keine Wünsche haben, wenn Mitjenka und ich uns keine ausdenken. Tja, rätselhaft …«
T. hörte plötzlich eine kalte, leblose Melodie, ähnlich wie der Gesang einer mechanischen Nachtigall. Ariel wurde sichtlich unruhig.
»Das Telefon«, sagte er und riss die Augen auf. »Ich bin momentan so schreckhaft …«
Er drehte sich um.
Im selben Augenblick geschah etwas mit dem Gleichgewicht der Kräfte, die T. an Ort und Stelle hielten. Eine windähnliche Kraft gewann die Oberhand und riss ihn mit sich, der Kopf des Demiurgen befand sich sofort ganz weit unten.
»He!«, schrie T. »Ariel! Ariel!!«
Doch Ariel war nur noch ein Punkt. Dann war auch der Punkt verschwunden – und es gab niemanden mehr, der hätte antworten können. Daraufhin setzte die Schwerkraft aus. Einen Augenblick später legte sich der Wind wieder.
Mit verbissener Anstrengung versuchte T., dem aus dem Universum entschwindenden Demiurgen zu folgen, und irgendwie gelang ihm das auch – obwohl er begriff, dass er sich damit verausgabte und zu einer weiteren solchen Handlung nicht mehr in der Lage sein würde.
Zu Anfang hörte er minutenlang eine Stimme etwas sagen, das er nicht verstehen konnte. Dann verstummte die Stimme und durch die Schwärze trat allmählich die Silhouette eines Mannes hervor; dieser saß vor einem seltsamen Apparat, der entfernt aussah wie eine Underwood mit einem leuchtenden Schirm gegenüber dem Gesicht.
T. erkannte Ariel, der aber anscheinend nicht ahnte oder den es nicht kümmerte, dass er beobachtet wurde. Er tippte mit zwei Fingern konzentriert auf die Tastatur des Gerätes (T. dachte sich, das müsse diese Turingmaschine sein, von der er so viel gehört hatte), und in dem leuchtenden Rechteck vor seinem Gesicht erschienen Buchstaben, als würde jemand sie von der anderen Seite darauf malen. Die Buchstaben gruppierten sich zu Wörtern, die Wörter zu Sätzen und die Sätze zu Abschnitten. T. strengte seine Augen an, und die leuchtende Oberfläche kam bis dicht vor sein Gesicht – als säße er selbst, und nicht Ariel, an der Turingmaschine.
XIII
Zugegebenermaßen war das Gesicht unter dem großen Wort Snob nicht mehr jung und frisch. Dafür aber war das Zeitschriftencover dank der hohen Auflösung sehr aufschlussreich: Poren, Falten, winzige Pickel, Härchen unterschiedlichen Kalibers, kaum wahrnehmbare Hautschüppchen, talgig glänzende Haut, ein dunkler, keilförmiger Bart, Krähenfüße um die Augen – das Ganze sah aus wie eine von Geheimzeichen übersäte Karte eines waldreichen Landes mit zwei kalten Seen, zwischen denen sich der längliche Gebirgskamm der Nase hinzog. Die Devise »Mit Kartoffeln halten wir uns wacker!« prangte
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