Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings (German Edition)
Meile, ohne zu wissen und wirklich ohne dranzudenken, wohin er ginge. Als ihm endlich ein kleiner Bach aufstieß, der ihn in seinem graden Wege hinderte, warf er sich am Ufer desselben nieder. Auch konnte er sich nicht enthalten, mit einigem kleinen Unwillen für sich zu murmeln: »Auf diesem Platze wird mir doch mein Vater nicht verbieten, auszuruhen?«
Er verfiel alsobald in die heftigsten Gemütsbewegungen; raufte sich die Haare aus dem Kopfe und that viel andre Dinge, welche gewöhnlicherweise solche Anwandlungen von Unsinn, Wut und Verzweiflung begleiten.
Als er auf diese Weise den ersten Anfällen seiner Leidenschaft Luft gemacht hatte, fing er nach und nach an, zur Besinnung zu gelangen. Sein Gram nahm jetzt eine andre Wendung, und ward nach und nach weniger ungestüm, bis er endlich sich genug abkühlte, um der Stimme der Vernunft Gehör zu geben, so daß er überlegen konnte, was er in seiner jetzigen kläglichen Lage für schickliche Schritte zu thun habe.
Und nun entstand die große Frage: wie er sich in Ansehung Sophiens benehmen sollte? Der Gedanke, sie verlassen zu müssen, zerspaltete fast sein Herz; allein die Betrachtung, sie in Elend, Mangel und Not zu bringen, machte ihm womöglich noch herbere Qual; und wenn das heftige Verlangen, ihre Person zu besitzen, ihn auch hätte verleiten können, nur einen Augenblick in der Wahl unschlüssig zu sein, so war er doch noch keineswegs versichert, ob sie sich entschließen würde, seine Wünsche um einen so hohen Preis zu befriedigen. Herrn Alwerths Unwille, der Kummer und die Unruhe, die er ihm verursachen müßte, waren starke Gründe gegen das letztere; und endlich noch kam die sichtbare Unmöglichkeit, daß sein Vorsatz gelingen könnte, auch selbst wenn er ihm alle diese Bedenklichkeiten aufopferte, zu seinem Beistande: dergestalt, daß am Ende die Ehre, unterstützt von Verzweiflung, von Dankbarkeit gegen seinen Wohlthäter, von wirklicher Liebe gegen seine Geliebte, seine brennenden Begierden überwand und er sich entschloß, Sophien lieber zu verlassen, als ferner darnach zu streben, sie zu ihrem eigenen Unglücke zu erlangen.
[280] Für jemand, der so etwas nicht empfunden hat, ist es schwer, sich die glühende Wärme vorzustellen, welche sich bei der ersten Uebersicht dieses Sieges über seine Leidenschaft in seiner Brust ausbreitete. Der Stolz liebkoste ihn so sanft, daß sein Gemüt vielleicht eine vollkommene Glückseligkeit genoß; lange aber dauerte freilich dieser Zustand nicht. Sehr bald stand Sophie wieder vor seiner Einbildungskraft und vermischte die Freuden über seinen Triumph mit nicht weniger qualvollen Herzensbeklemmungen, als jenen, die ein edelmütiger Feldherr fühlen muß, wenn er auf dem Schlachtfelde die blutigen Leichenhaufen sieht, welche der Preis seiner Siegeslorbeeren sind; denn tausende von zärtlichen Ideen und Wünschen lagen da ermordet vor dem Anblicke unsres empfindsamen Eroberers.
Fest entschlossen unterdessen, den Schritten dieses Recken, Ehre, (ich glaube so nennt es die nordische Riesenfabel Odins) zu folgen, ward er mit sich eins, Sophie einen Brief zuguterletzt zu schreiben; und so ging er nach einem nahegelegenen Hause, woselbst er, nachdem man ihm das Benötigte dazu gereicht hatte, schrieb wie folgt:
»Gnädiges Fräulein!
Wenn Sie die Lage erwägen, in welcher ich dieses schreibe, so wird Ihr gütiges Herz mir jede Ungereimtheit, jeden Wahnwitz verzeihen, der sich in diesen Brief einschleichen mag; denn jedes Wort hier fließt aus einem Herzen, welches so voll ist, daß keine menschliche Sprache auszudrücken vermag, was es ringt, Ihnen zu sagen.
Ich bin zu dem Entschlusse gelangt, mein gnädiges Fräulein, Ihren Befehlen zu gehorchen und auf ewig Ihr teures, Ihr unaussprechlich verehrtes Angesicht zu meiden. Diese Befehle, – o wie grausam sind sie! Aber diese Grausamkeit, sie ist ein Werk des Schicksals, nicht meiner Sophie! Das Schicksal hat es notwendig gemacht, – unumgänglich notwendig gemacht, Ihrer Selbsterhaltung wegen zu vergessen, daß ein solcher Unglücksball in der Welt sei, als ich bin.
Glauben Sie mir, teuerstes Fräulein, all' meine Leiden, bis auf das geringste, möcht' ich Ihnen so gerne verhehlen, wenn ich nicht gewiß wüßte, daß solche dennoch zu Ihren Ohren gelangen werden. Ich kenne die himmlischzärtliche Güte Ihres Herzens und möchte Ihnen gerne die Schmerzen ersparen, welche Sie allemal mit jedem Wesen, das leidet, empfinden. O, lassen Sie sich durch nichts,
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