Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings (German Edition)
nichts als bloßer Schein ist, mag vielleicht in sehr abstraktem Betracht nicht so viel Lob zu verdienen scheinen, als die Tugend selbst ohne diese Formalität. Indessen wird sie doch allemal mehr Lob erhalten und so viel, glaub' ich, wird von jedermann zugestanden werden, daß es nötig sei, daß jedes Frauenzimmer, einige sehr wenige besondere Fälle ausgenommen, die eine oder die andere beibehalte.
[272] Nachdem ein Logis besorgt war, begleitete Sophie ihre Kousine auf diese Nacht, beschloß aber des andern Morgens beizeiten die Dame aufzusuchen, in deren Schutz sie, wie wir bereits vorhin erwähnt haben, als sie ihres Vaters Haus verließ, sich zu begeben vorgesetzt hatte, und dies war sie wegen einiger Bemerkungen, die sie während der Reise in der Kutsche gemacht hatte, um so begieriger ins Werk zu setzen.
Da wir nun aber um vieles nicht Sophiens Charakter in den Verdacht des Argwohns bringen möchten, so fürchten wir uns fast, unsern Leser die wunderlichen Gedanken sehen zu lassen, welche ihr über Madame Fitz Patrick im Kopfe herumgingen, über die sie gewiß jetzt bei sich einige Zweifel unterhielt, welche, da sie sich sehr leicht in dem Busen der schlechtesten Leute einschleichen können, wir hier nicht für dienlich erachten etwas deutlicher zu äußern, bis wir vorher unsrem Leser ein paar Worte über den Argwohn überhaupt werden gesagt haben.
Mir hat es immer geschienen als ob er zwei Grade habe. Den ersten bin ich geneigt aus dem Herzen herzuleiten, weil die außerordentliche Schnelligkeit, womit er auf seine Entdeckung ausgeht, einen gewissen vorläufigen innern Drang anzuzeigen scheint, und noch um so mehr, weil dieser höchste Grad sich sein Objekt selbst schafft, sieht was nicht da ist, oder wenigstens allemal mehr als was wirklich vorhanden ist. Dies ist jene schnellsichtige Spitzfindigkeit, deren Habichtsaugen kein Merkmal von Verdächtigkeit entwischen kann, welche nicht nur über die Handlungen, sondern über die Worte und Blicke der Menschen ihre Grübeleien anstellt, und, da sie aus dem Herzen des Beobachters entspringt, bis zu dem Innersten des Herzens des Beobachteten eindringt und daselbst das Uebel, sozusagen den ersten Embrio ausspäht, ja, zuweilen sogar noch ehe man sagen kann, es sei empfangen worden. Eine bewundernswürdige Kraft des Geistes wäre es, wenn sie unfehlbar wäre, allein da auf diesen Grad von Vollkommenheit nicht einmal mehr als ein einziger Sterblicher Anspruch macht, so ist aus der Fehlbarkeit solcher äußerst scharfen Ausspähung manches traurige Unheil und sehr bittere Herzenskränkung für Unschuld und Tugend entstanden. Ich kann also nicht umhin, dieses sehr schnelle Erblicken des Verdächtigen als eine schnelle Voreiligkeit und ein wirkliches sehr verderbliches Uebel an sich selbst zu betrachten. Und zu dieser Meinung werde ich um so mehr bewogen, als ich besorge, dies Uebel habe allemal seinen Grund in einem schlechten Herzen, aus Ursachen, die ich bereits oben angeführt habe, und noch aus einer mehr, weil ich solches nie bei einem guten wahrgenommen habe. Von diesem Grade des Argwohns aber spreche ich Sophien im allergenauesten Verstande völlig frei.
[273] Der zweite Grad dieser Eigenschaft scheint seine Quelle im Kopfe zu haben. Dieser ist in der That nichts weiter als die Fähigkeit, das zu sehen, was vor unsern Augen liegt, und aus dem was wir sehen Schlüsse zu ziehen. Das erste von beiden läßt sich von niemand vermeiden, der nur Augen hat, und das zweite ist vielleicht eine ebenso gewisse und unvermeidliche Folge davon, daß wir Gehirn haben. Dieser zweite Grad ist fast ein ebenso großer Feind der Schuld, als der erste ein Feind der Unschuld ist; auch kann ich solchen in keinem verhaßten Lichte betrachten, wenn er auch aus menschlicher Schwachheit zuweilen irrig sein sollte. Wenn zum Beispiel ein Ehemann zufälligerweise seine Frau auf dem Schoße und in der Umarmung eines jener artigen jungen Herren anträfe, welche immer ihre Taschen voller Aufnahmepatente für Ehemänner in den uralten Orden vom Hirschgeweih haben, so glaube ich, könnte ich ihn eben nicht tadeln, wenn er aus den besondern Vertraulichkeiten, die er wirklich gesehen und gegen die wir schon tolerant genug sind, wenn wir solche unschuldige Freiheiten nennen, auf noch etwas mehr schlösse, als was er wirklich sah. Der Leser wird sich leicht selbst auf einen Ueberfluß von dergleichen Beispielen besinnen, und ich will nur noch eins hinzufügen, das von einigen für sehr
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