Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings (German Edition)
haben, daß ich eine ganze Woche hingehn lassen konnte, ohne ein Wort von mir hören zu lassen!«
Es war nicht mit trocknen Augen, daß Jones diese Erzählung anhörte. Als sie geendigt war, nahm er Madame Miller mit sich in ein besondres Zimmer auf die Seite und gab ihr seinen Geldbeutel, worin die Summe von den fünfzig Pfunden war und bat sie, davon den armen Leuten so viel zu schicken, als sie für dienlich erachte. Der Blick, den Madame Miller Herrn Jones bei dieser Gelegenheit gab, läßt sich nicht leicht beschreiben. Sie verfiel in eine Art von konvulsivischer Entzückung und rief aus: »Gütiger Gott! gibt es einen solchen Menschen auf dieser Welt!« – Sie faßte sich aber bald wieder und sagte: »Doch, doch! ich kenne so einen Mann; aber kann es so noch einen andern geben?« – »Ich hoffe, Madame,« [75] sagte Jones, »es gibt der Menschen viele, welche gemeine Menschenliebe besitzen: denn unsern Nebenmenschen in solchen Nöten beizuspringen, kann doch wohl nicht gut einen höhern Namen verdienen.« Madame Miller nahm darauf zehn Guineen und wollte sich auf keine Art bereden lassen, noch mehr zu nehmen und sagte: sie wolle schon Gelegenheit finden, dies Geld morgen frühzeitig hinauszusenden; wobei sie hinzufügte, sie habe selbst schon eine Kleinigkeit für die armen Leute gethan und habe sie nicht ganz in so großem Mangel verlassen, als sie sie gefunden.
Sie gingen hierauf wieder ins Besuchzimmer, woselbst Nachtigall sein großes Leidwesen über die fürchterliche Lage dieser armen Menschen bezeigte, welche er wirklich kannte; denn er hatte sie mehr als einmal bei Madame Miller gesehen. Er schalt auf die Thorheit, sich für andrer Leute Schulden zu verbürgen; stieß manche bittre Verwünschungen aus gegen den Bruder; und beschloß mit dem Wunsche, daß man doch für die unglückliche Familie etwas möchte thun können. »Wie wäre es,« sagte er, »wenn Sie solche Herrn Alwerth empföhlen? Oder was sagen Sie zu einer Kollekte? Ich trage gerne meine Guinee mit bei, gerne!«
Madame Miller gab darauf keine Antwort, und Nettchen, der ihre Mutter die Freigebigkeit des Herrn Jones ins Ohr geflüstert hatte, ward dabei ganz blaß. Wenn indessen eine oder die andre sich über Herrn Nachtigall ärgerten, so hatten sie gewiß unrecht; denn Jones' Freigebigkeit, wenn er sie auch erfahren hätte, war ja kein Beispiel für ihn, dem er verpflichtet gewesen wäre zu folgen; und es gibt ja der Menschen zu tausenden, die nicht einmal einen Dreier gegeben haben würden; wie er nun freilich selbst auch eigentlich nicht that; denn er ließ es bei den Worten bewenden, und da die andern also nicht für gut fanden etwas zu fordern, so behielt er sein Geld in der Tasche.
Ich habe in Wahrheit bemerkt und werde wohl keine so gute Gelegenheit wieder finden, wie die gegenwärtige, meine Bemerkung an den Mann zu bringen, daß die Welt überhaupt über Wohlthun und Mildthätigkeit sich in zwei ganz entgegengesetzte Meinungen geteilt hat. Die eine Partei scheint dafürzuhalten, daß alle Handlungen dieser Art als ganz freiwillige Gaben anzusehen sind; und so wenig man auch geben möge (wenn es auch im Grunde nichts weiter wäre als gute Wünsche), man doch allemal dabei ein großes Verdienst habe. – Die andre hingegen scheint der festen Ueberzeugung zu sein, Mildthätigkeit sei eine positive Pflicht, und wenn Reiche merklich weniger geben, als ihr Vermögen wohl zuließe, um die Not der Armen zu lindern, ihre knickrigen Wohlthaten so weit entfernt seien, etwas verdienstliches zu haben, daß sie vielmehr ihre [76] Pflicht nur halb erfüllt haben, und gewissermaßen noch verächtlicher seien, als diejenigen, welche solche ganz und gar verabsäumen.
Diese beiden Neigungen mit einander zu vereinigen, steht nicht in meinem Vermögen. Nur soviel will ich hinzusetzen: Die Geber sind gemeiniglich der ersten Meinung, und die Nehmer neigen sich fast durchgängig zu der letztern.
Neuntes Kapitel.
Welches von Sachen handelt, die von denen im vorigen Kapitel himmelweit verschieden sind.
Des Abends besuchte Herr Jones abermals seine Dame, und abermals erfolgte unter ihnen eine lange Konversation. Weil solche aber bloß in ebenso gewöhnlichen Dingen bestand, wie zuvor, so vermeiden wir etwas besonders davon anzuführen, weil wir ohnehin verzweifeln, diese Besonderheiten dem Leser angenehm machen zu können, es sei denn, daß er einer von jenen wäre, dessen Verehrung des schönen Geschlechts, wie die Verehrung der Heiligen bei
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