Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
lehne und kaum noch sprechen kann. Ganz und gar nicht, sagt er, und ich höre, wie er seine Tasche öffnet und darin herumkramt. Es ist doch nicht schlimm, wenn man ein wenig Spaß haben will, sagt er. Wenn man ihn sich sucht.
Total Recht hast du, sage ich, aber so kommt es gar nicht aus meinem Mund.
Ich höre, wie meine Schuhe über die Fliesen quietschen, während er mich auf die andere Seite der Küche zieht. Meine Ohrringe und mein Halsband klimpern, als er sie auf einen Teller legt.
Das stöhnende Geräusch stammt von mir.
Ich höre mich an, als ob ich nicht mehr sprechen könnte. Wie ein Baby. Oder ein alter Mensch, dem die Zähne und das halbe Gehirn fehlen. Ich versuche, etwas zu sagen, aber es kommen nur Geräusche.
Er sagt mir, ich solle ganz ruhig sein. Ich bräuchte mich nicht bemühen zu reden.
Seine Hände sind jetzt an mir dran, und er beschreibt alles, was er tut. Ich soll mir keine Sorgen machen und ihm vertrauen. Er redet die ganze Zeit, nennt mir den Namen des Muskels, den er berührt.
Doofer Name. Lateinisch.
Er holt tief Luft, dann ist er eine Weile still. Ein paar Minuten.
Und ich höre von mir kein einziges Wort darüber. Kein Wort der Beschwerde. Nur das Tropf, Tropf, Tropf meines Speichels, der auf den Fliesen vor mir landet.
Ich schaffe es, ein gurgelndes Geräusch von mir zu geben.
Ein paar Mal grunze ich, doch jetzt werden die Laute schwächer, während ich immer mehr wegdrifte.
Dann passiert etwas Wichtiges. Das Letzte, was ich höre. Nur ein paar Worte, ein seltsames Echo, als kämen sie von weit her. Als würde er am Ende eines langen Rohres stehen und sie mir zuflüstern, wie damals, als wir Kinder waren, und meine Freundin mir vom anderen Ende des Staubsaugerrohrs Hallo gesagt hatte.
Ich glaube, das muss ich erzählen.
Er sagt Gute Nacht. Gute Nacht …
Die Worte, die er sagt, hören sich ziemlich dumm an. In einem süßlichen, sanften Ton. Eins der Worte habe ich seit dem noch einmal gehört.
Eins der Worte habe ich gehört, als ich in diesem Zu stand aufwachte.
Eins der Worte drückt ziemlich gut aus, was ich bin.
Zweiundzwanzig
Als Thorne aufwachte, war es bereits dunkel. Er sah auf die Uhr. Kurz nach sieben. Er war zweieinhalb Stunden weg gewesen.
Er hatte keine Möglichkeit, es schon zu wissen, aber zwei Stunden später würde alles vorbei sein.
Anne war gegangen. Er stand vom Sofa auf, um sich Kaffee zu machen, und fand die Nachricht auf dem Kaminsims.
T OM ,
I CH HOFFE , ES GEHT DIR JETZT BESSER . ICH WEISS , WIE SCHWER ES FÜR DICH WAR , MIT MIR DARÜBER ZU REDEN .
D U BRAUCHST KEINE ANGST ZU HABEN , UNRECHT ZU HABEN .
I CH HOFFE , ES MACHT DIR NICHTS AUS , DASS ICH MICH HEUTE A BEND MIT J EREMY TREFFE , UM IHM ZU SAGEN , DASS ALLES IN ORDNUNG IST . ICH DENKE , AUCH ER HAT EIN R ECHT DARAUF , DASS ES IHM BESSER GEHT . R UF MICH SPÄTER AN .
K USS . A NNE .
Er machte sich einen Kaffee und las die Nachricht noch einmal. Es ging ihm tatsächlich besser, obwohl er nur wenige Stunden geschlafen hatte. Darüber zu reden, was vor all den Jahren passiert war, gab ihm das Gefühl, sauberer zu sein. Gereinigt war vielleicht ein bisschen zu viel, doch in Anbetracht der Tatsache, dass der gegenwärtige Fall in die Hose gegangen war, er keine Freunde, dafür aber ständig Krach mit seinen Vorgesetzten hatte, hätte es ihm schlechter gehen können.
Tom Thorne hatte sich abgefunden.
Es war nicht die Angst gewesen, Unrecht zu haben. Er hatte nicht einmal darüber nachgedacht. Jetzt musste er mehr tun, als nur darüber nachzudenken. Er musste damit leben.
Anne würde sich mit Bishop treffen und ihm erzählen, dass er von der Liste gestrichen wurde. Das war in Ordnung. Schließlich hatte er nie wirklich auf der Liste gestanden, wenn Thorne ehrlich war. Nur in Thornes Dickkopf war das so. Es war Zeit, sich ein paar grausamen Realitäten zu stellen.
Anne tat etwas Gutes. Bishop hatte das Recht zu wissen, wie die Dinge standen.
Er war nicht der Einzige.
Thorne griff zum Telefon und wählte Annes Nummer. Vielleicht konnte er sie abfangen, bevor sie aufbrach. Rachel antwortete fast sofort. Sie klang außer Atem, verärgert und eindeutig wie ein Teenager.
»Hi, Rachel, hier ist Tom Thorne. Kann ich mit deiner Mutter sprechen?«
»Nein.«
»Also …«
»Sie ist nicht hier. Sie haben sie gerade verpasst.«
»Sie ist auf dem Weg nach Battersea, oder?«
Der ungeduldige Ton in ihrer Stimme wurde schärfer. »Ja. Sie will Jeremy sagen, dass er nicht mehr
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