Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
Staatsfeind Nummer eins ist. Wird ja auch Zeit, wenn Sie mich fragen.«
Thorne sagte nichts. Anne hatte es ihr erzählt. Aber das war jetzt egal.
»Seit wann ist sie –«
»Ich weiß nicht. Zuerst geht sie einkaufen, denke ich. Sie kocht ihm was zum Abendessen.«
»Hör mal, Rachel –«
Sie schnitt ihm das Wort ab. »Ich muss gehen, sonst komme ich zu spät. Rufen Sie sie auf dem Mobiltelefon an, oder versuchen Sie es später bei Jeremy. Haben Sie die Nummer?«
Thorne versicherte ihr, dass dem so war. Erst dann merkte er, dass sie es sarkastisch gemeint hatte.
Er versuchte es unter Annes Mobiltelefonnummer, doch er bekam keine Verbindung. Vielleicht hatte sie das Telefon ausgeschaltet. Wenn sie in der U-Bahn saß, würde sie ohnehin keinen Empfang haben. Dann erinnerte er sich, dass sie Bereitschaftsdienst hatte, und vermutete, dass sie selbst gefahren war. Irgendwo hatte er die Nummer ihres Piepsers …
Er griff nach seiner Jacke. Er würde das tun, was Rachel ihm vorgeschlagen hatte, und Anne später bei Bishop anrufen. Diesmal würde er nicht die Rufnummer unterdrücken.
Der Anruf war nicht einmal besonders wichtig. Thorne wollte nur wissen, bis wie viel Uhr Alison Willetts Besuch empfangen konnte.
Er trug eins seiner flotten weißen Hemden, von denen er wusste, dass sie ihr gefielen. Er hatte sich im großen Spiegel beobachtet, als er das Hemd zugeknöpft hatte. Beobachtet, wie die Narben unter der makellosen Baumwolle verschwunden waren.
Jetzt blickte er auf seine Uhr, als er mit seinem Wagen völlig gelassen in Richtung Norden über die Blackfriars Bridge fuhr. Er würde ein bisschen zu spät kommen; sie würde wie immer überpünktlich sein.
Sie war sehr, sehr erpicht darauf.
Er würde sie wie gewöhnlich vor dem Green Man treffen. Es war ein bisschen nervig, den ganzen Weg bis über den Fluss hinter sich zu bringen, nur um wieder umzukehren und zurück nach Süden zu fahren, doch dies war ihm lieber, als sie mit dem Bus oder der U-Bahn fahren zu lassen. Er wollte die Sache im Griff haben. Würde sie zu spät kommen oder den Bus verpassen, könnte es den gesamten Zeitplan durcheinander bringen.
Als er ihr erzählt hatte, dass sie zu ihm nach Hause gehen würden, wusste er, was sie dachte: Oh, mein Gott, das wird die Nacht der Nächte. Beinahe roch er schon den Ansturm des jugendlichen Östrogens und hörte die Zahnrädchen in ihrem kleinen dummen Gehirn rattern, während sie überlegte, welches Parfüm sie sich zwischen die Titten tupfen sollte und welcher Schlüpfer ihn mit Sicherheit anmachen würde.
Nun ja, es würde eine Nacht sein, an die man sich auf jeden Fall erinnern würde.
Bei ihm zu Hause.
Es könnte ein bisschen voll werden …
Auf der Fahrt zum Queen Square musste Thorne nicht wirklich nachdenken. Er hatte sich überlegt, was er Alison Willetts sagen würde. Er würde nur ein bisschen entspannter sein müssen, um es aussprechen zu können.
Er nahm die Massive-Attack-Kassette aus dem Rekorder und schob Merle Haggard hinein.
Entspannt genug, um sich entschuldigen zu können.
Nachdem er fast zehn Minuten lang laut fluchend um den Platz herumgefahren war, parkte er in zweiter Reihe und legte einen Pappkarton an die Windschutzscheibe, auf den er »Polizeieinsatz« gekritzelt hatte.
Es war ein kalter Abend. Er wünschte, er hätte sich eine wärmere Jacke angezogen. Als er eilig zum Haupteingang des Krankenhauses marschierte, spürte er schon die ersten Regentropfen und erinnerte sich, dass er diesen Weg zwei Monate zuvor umgekehrt gegangen war. Es schien viel mehr Zeit seit dem Tag vergangen zu sein, an dem er Alison Willetts das erste Mal gesehen hatte. Er war durch den Regen zu seinem Wagen gerannt und hatte den Brief gefunden. Er hatte angefangen, das Wesen des Mannes zu verstehen, mit dem er es zu tun hatte.
Heute, an der gleichen Stelle, während es anfing zu regnen, fand sich Thorne mit der Tatsache ab, dass er immer noch keine Ahnung hatte, wer der Mann war.
Fast acht Uhr. So spät war Thorne noch nie in dem Krankenhaus gewesen. Im Dunkeln wirkte es so anders. Seine Schritte hallten von dem alten Marmor wider, als er durch den älteren Teil des Gebäudes in den Chandler-Flügel ging. Es waren nur wenige Menschen da, und diejenigen, an denen er vorbeikam – Pflegekräfte, Putzfrauen, Sicherheitspersonal –, sahen ihn streng an. Sie schienen sein Gesicht erforschen zu wollen. Während des Tages war er sich dieser prüfenden Blicke nie bewusst gewesen.
Er
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