Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
Sie hätten genauso gut eine Visitenkarte mit der Aufschrift »Du armes Schwein« schicken können. Telefonnummern des Pizzaservice und von Anbietern indischen Essens waren wohl kaum das, was man mit »Familie« und »Freunden« in Verbindung brachte.
»Ich hoffe, es hat Ihnen was genützt, wie Sie mich ausgequetscht haben, Detective Inspector.« Wie Bishop Thornes Titel betonte, hätte man meinen können, er hätte aus der Besetzungsliste eines Ami-Krimis vorgelesen. Seine offensichtliche Ausgelassenheit angesichts der Situation sagte Thorne, dass er mehr als gewillt war, seine Rolle in dem Stück mitzuspielen, doch Anne sorgte rasch dafür, dass sein Interesse an dem Fall erlosch.
»Hör auf, Jeremy, ich bin mir sicher, dass Tom nicht darüber reden will. Vielleicht darf er gar nicht, selbst wenn er wollte.«
Thorne hatte keine Veranlassung, über den Fall zu reden. Vielmehr wollte er Bishop reden lassen, und er wurde nicht enttäuscht. Bishop steckte voller Geschichten. Er schien ständig vergnügt zu sein, nicht nur wegen seines eigenen Geplappers, sondern auch wegen des besonderen Umstands ihrer gemütlichen Dreisamkeit. Der Anästhesist bestimmte die Unterhaltung und machte hin und wieder Anstalten, den Polizisten zu banalem Tratsch zu verleiten.
»Wo wohnen Sie, Tom?«
»Kentish Town. Ryland Road.«
»Auf der Seite kenne ich mich gar nicht aus. Hübsch?«
Thorne nickte. Nein, nicht besonders.
Bishop war ein witziger und unterhaltsamer Erzähler – vermutlich. Thorne bemühte sich, an den richtigen Stellen zu lachen, auch wenn er das Gefühl hatte, zwei linke Hände zu haben, während seine Tischgenossen die Spaghetti mit professionellem Geschick auf die Gabeln wickelten.
»… und die beiden alten Damen saßen da und redeten über die BSE-Krise und wie sie ihre Rechte als Verbraucher geltend machen und die Schuld den Franzosen anhängen könnten.«
»Politik in der Notaufnahme?« Anne wandte sich an Thorne. »Normalerweise wird ununterbrochen über Fußball oder Seifenopern oder so Sachen geschwätzt wie ›Ich weiß, es ist eine hässliche Wunde, aber er hat mich vorher noch nie geschlagen, ehrlich«.«
»Aber jetzt passt auf, gleich kommt der Brüller.« Bishop leerte sein Glas und ließ die beiden anderen auf die Pointe warten. »Ich habe gehört, wie sie gesagt haben, dass Pommes boykottiert werden sollten!«
Thorne lächelte. Bishop hob die Augenbrauen in Annes Richtung, bevor sie kicherten und wie aus einem Munde »NFN!« sagten.
Anne versuchte, ihr Lachen zu unterdrücken und beugte sich zu Thorne hinüber. »Normal für Norfolk.«
Thorne lächelte. »Stimmt. Dummheit oder Inzucht.« Bishop nickte. Thorne zuckte mit den Schultern. Ich bin nur ein dummer Polizist.
Anne kicherte immer noch. Sie hatten bereits zwei Flasehen Wein gekippt, die Spaghetti aber noch nicht aufgegessen. »Irgendwo gibt es einen Arzt mit zu viel Zeit, der sich diese Witze ausdenkt. Es gibt ziemlich viele davon, aber eigentlich sind sie nicht sehr nett.«
»Komm schon, Jimmy, die sind doch ganz spaßig. Ich wette, Tom hatte seinerzeit auch mit ein paar JP FROGS zu tun, stimmt’s, Tom?«
»Da bin ich mir fast sicher. Und was heißt das?« Thorne hob die Augenbrauen.
»Just Plain Fucking Run Out of Gas«, erklärte Anne. »Wenn einem Patienten die Luft ausgeht und er zu sterben droht. Diesen Spruch hasse ich …« Sie schenkte sich Wein nach und lehnte sich zurück, während Bishop ganz in seinem Element war.
»Jimmy wird ein bisschen empfindlich, wenn es an die eher makabren Witze geht, die uns den Tag versüßen. Aber einige der Abkürzungen sind ganz nützlich, wenn man schnell mal einem Kollegen was sagen will.«
»Und die Patienten gleichzeitig im Dunkeln lassen will?«
Bishop schob seine Brille mit dem Knöchel seines Zeigefingers nach oben. Thorne bemerkte, dass seine Fingernägel perfekt manikürt waren. »Exakt. Und eine weitere Sache, die Jimmy hasst, aber bei weitem die beste Möglichkeit ist, wenn Sie mich fragen. Was macht es für einen Sinn, wenn man den Patienten Sachen erzählt, die sie nicht verstehen? Wenn man es ihnen erzählt und sie verstehen es, kriegen sie doch bloß eine Höllenangst.«
Anne begann, die Teller abzuräumen.
»Dann ist ein Patient also besser dran, wenn er im Dunkeln tappt, statt ein JP FROG zu sein?«
Bishop hob sein Glas, um Thorne gekünstelt zuzuprosten. »Das ist aber noch nicht der Beste. Ich habe mit einem Haufen JP FROGS zu tun, aber Jimmy, die sich auf die
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