Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
nicht anders hatte handeln können. »Was hat er gesagt?«
»Er meinte, das höre sich hoffnungsvoll an.«
»Irgendwas über mich?«
Er hörte, wie Holland nachdachte.
»Schonen Sie nicht meine Gefühle, Holland. Ich habe keine.«
»Über Sie und Miss Willetts wurde rumgealbert, Sir … ich kann mich eigentlich nicht daran erinnern – nur ein Witz, ehrlich.«
Niemand nimmt die Sache wirklich ernst.
»Wann soll mit der Frau gesprochen werden?«
»Ich und Detective Inspector Tughan werden morgen früh zu ihr gehen.«
Thorne notierte sich den Namen und die Adresse der Frau. Die anfängliche Aufregung ließ etwas nach, und er spürte wieder die Kälte. Er wollte zurück ins Bett.
»Danke für die Informationen, Holland. Noch schnell eine Sache …«
»Keine Sorge, Sir, ich werde Sie anrufen, sobald wir bei ihr waren.«
»Prima, danke. Aber ich wollte noch sagen, falls jemand fragen sollte, Ihre Freundin hat sich heute Morgen die Hand in der Tür eingeklemmt …«
Sobald er den Aus-Knopf gedrückt hatte, merkte er, dass er hellwach war. Er schaltete die Musik aus, huschte mit einer Mülltüte im Wohnzimmer umher und sammelte die leeren Bierdosen ein. Einen Augenblick lang war er versucht, in Annes Tasche zu schauen, die immer noch dort lag, wo sie sie abgestellt hatte. Ob sie Wäsche zum Wechseln mitgebracht hatte?
Er besann sich eines Besseren und griff stattdessen nach der Decke, die auf dem Regal im Flur lag, und setzte sich im Dunkeln aufs Sofa.
Und dachte nach.
Die Dinge waren in Bewegung geraten. Er hatte schon Fälle gehabt, bei denen er sich als Außenseiter gefühlt hatte – bei denen er aus einem anderen Blickwinkel an die Sache herangegangen war –, aber er war immer noch, wenn auch nur formal, Teil eines Teams gewesen. Diesmal war alles anders. Es war ein tolles Gefühl gewesen, Keables Büro zu verlassen, aber schon ein paar Minuten später hatte er sich gefragt, ob er das Richtige getan hatte. Das fragte er sich immer noch.
Er wusste, warum er gegangen war. Was auch immer Keable seinen Vorgesetzten über Politik und persönliche Konflikte berichtet hatte, eigentlich ging es doch nur um Urteilsvermögen.
Darum, dass sie Urteilsvermögen hatten und dass es ihm fehlte.
Um das Urteilsvermögen von ihm, von ihnen und denjenigen, die schon lange nicht mehr da waren. Doch selbst dem Urteilsvermögen der Toten konnte man nicht mehr vertrauen. Jede Verurteilung, die auf solch einer Zeugenaussage basierte, würde mit Sicherheit angefochten werden. Nur ein Mensch konnte ihn beurteilen.
Und Tom Thorne war der härteste Richter von allen.
Er dachte über die Frau nach, die in seinem Bett lag. Anne war nicht die erste Frau, mit der er seit Jan geschlafen hatte. Er hatte in angetrunkenem Zustand mit einer jungen Polizistin rumgemacht und einen kurzen Versuch mit einer Rechtsanwaltsgehilfin gestartet – doch heute war das erste Mal, dass er hinterher Angst hatte.
Vor langer Zeit hatte Anne ein Verhältnis mit Bishop gehabt. Thorne wusste immer noch nicht, wie intensiv es gewesen war, aber das war auch nicht wirklich von Belang. Der Mörder, der sein Leben auf den Kopf gestellt hatte, hatte einmal mit der Frau geschlafen, die jetzt, zumindest im Moment, das Bett mit Thorne teilte. Ob Bishop eifersüchtig war? Das war durchaus möglich. Auch wenn der anonyme Anruf und die Beschuldigung unter seinem Niveau zu sein schienen. Konnte der Überfall hier in diesem Zimmer zumindest zum Teil eine Warnung gewesen sein, dass er sich von Anne fernhalten sollte? Hatte die ganze Sache etwas mit sexueller Rivalität zu tun? Der Gedanke war irgendwie tröstlich. Er gab ihm das Gefühl zurück, die Situation unter Kontrolle zu haben. Sie war ihm entglitten, als nach der Beschuldigung wegen Alison die Wut über ihn hinweggerollt war. Nun war er ruhiger.
Zurück im Krankenhaus. Oh, er wird genau herausfinden, was für ein Typ ich bin …
Ein Mann, der dazu ausgebildet worden war, Leben zu retten, zerstörte es im Namen von irgendetwas, das Thorne nie verstehen würde. Das er nie verstehen wollte.
Wenn Thorne ihn aufhalten wollte, musste er die Initiative ergreifen.
Er schnappte sich das Telefon, rollte sich auf dem Sofa zusammen und drückte die 141 für die Unterdrückung der Rufnummernanzeige, bevor er weiterwählte …
Einige Minuten später schlich er zurück ins Schlafzimmer und schlüpfte unter die Decke, konnte allerdings nicht schlafen.
Gegen vier Uhr wachte Anne auf und tat ihr Bestes, um ihm dabei zu
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