Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
helfen.
»Wie fühlst du dich?«
Eine Frage, die ich jeden Tag gestellt bekomme. Manchmal mehr als einmal. Es ist ja nicht so, dass ich nicht verstehe, warum. Es ist wohl besser, als einfach nur dazusitzen und sich zu fragen, welche Krankenschwester als Nächste reinkommt, um mir den Hintern abzuwischen. Krankenhäuser zwingen die Leute auf seltsame Weise, Obst zu kaufen, durch den Mund zu atmen und lächerliche Fragen zu stellen. Erzählt mir doch lieber etwas! Ich bin eine gute Zuhörerin. Und ich werde immer besser. Erzählt, was ihr wollt. Setzt euch hin und schwafelt darüber, dass euch euer Chef nicht versteht oder euer Mann keine Lust mehr auf Sex hat oder ihr verreisen wollt oder am Abend gerne zum Saufen geht, aber stellt mir bitte keine Fragen.
Wie fühlst du dich?
Ihr erwartet doch nicht wirklich eine Antwort, oder? Ihr wärt total gelangweilt, wenn ich mitspielen würde. Wenn ich »Eigentlich nicht schlecht, danke der Nachfrage, und wie geht’s selbst?« antworten würde. Dies würde bei meiner gegenwärtigen Fähigkeit zu blinzeln und unter Einbeziehung des Müdigkeitsfaktors etwa fünfundvierzig Minuten in Anspruch nehmen. Tut es euch schon Leid, dass ihr gefragt habt? Also, dann tut es einfach nicht.
Wie fühlst du dich?
Wunderbar, dass ihr hier seid, versteht mich nicht falsch. Das gilt für euch alle. Für Besucher, Krankenpfleger, die ihren Kopf durch die Tür stecken, und die Putzfrauen. Sagt hallo. Kommt rein und erzählt mir Lügen. Seid nicht so berechenbar. Der einzige Grund, warum ihr fragt, ist der, dass ihr die Antwort nicht sofort wisst, sobald ihr mich anschaut. Ich meine, ihr könntet einfach mal Vermutungen anstellen. Ich liege im Krankenhaus. Ich werde wohl kaum selig sein. Allerdings wisst ihr nichts Genaues. Normalerweise seht ihr, wenn jemand glücklich, müde oder genervt ist, weil es in seinem Gesicht geschrieben steht. Aber mein Gesicht gibt nicht viel her. Es muss wohl etwas aussagen, nehme ich an, aber so genau weiß ich das nicht.
Wie fühlst du dich? Gut, also …
Wütend. Dumm. Optimistisch. Gelangweilt. Müde. Wach. Frustriert. Dankbar. Verärgert. Ruhig. Verträumt. Beschissen. Verwirrt. Unwissend. Hässlich. Krank. Hungrig. Nutzlos. Geil. Pessimistisch. Beschämt. Geliebt. Vergessen. Durchgeknallt. Verlegen. Entspannt. Allein. Ängstlich. Bedröhnt. Schmutzig. Tot …
Geil? Ich weiß, tut mir Leid, hört sich komisch an. Aber
ich liege hier auf einer tollen Matratze, die immer brummt,
und dann ist da dieser wunderbare Pfleger, der vielleicht doch nicht schwul ist. Also …
Habe ich verwirrt gesagt? Ja.
Oft. Zum Beispiel, weil mir Thorne ein Bild von Dr. Bishop gezeigt hat. Ich hatte das Gefühl, er wollte auf was hinaus. Vielleicht ist es so ähnlich, wenn man taub oder blind wird. Die anderen Sinne werden zum Ausgleich besser. Weil der größte Teil von mir kaputt ist, werde ich vielleicht ein bisschen wie eine Hexe oder so. Ich weiß, dass er mich was fragen wollte, aber dann hat sein Telefon geklingelt, und er hat ziemlich leise geredet. Dann ist er ganz komisch geworden.
Bis jetzt hat mir noch niemand erzählt, was passiert ist. Nicht wirklich. Über das Verbrechen, meine ich. Ich weiß, was er mir angetan hat …
Aber ich weiß immer noch nicht, warum.
Elf
An der U-Bahn-Haltestelle Waterloo stieg er ein. Acht Haltestellen auf der Bakerloo-Linie ohne Umsteigen. Der Waggon war gerammelt voll, genau so, wie er es mochte. Manchmal musste er zwei oder drei Züge warten, bis der richtige kam. Es machte keinen Sinn, sich hineinzuquetschen, wenn der Waggon nicht interessant war. Laut dröhnend fuhr die Bahn in die Haltestelle ein. Er ignorierte die anderen Reisenden, die zur Bahnsteigkante vordrängten. Er musterte die einzelnen Waggons, die an ihm vorbeifuhren, und traf seine Wahl.
Vielleicht dauerte es einige Haltestellen, bis er dort war, wo er hinmusste, doch er schlängelte sich problemlos durch die Massen von Pendlern. Er liebte es, diesen schwitzenden Knoten angestauter Wut und die raschelnden Zeitungen zu überwinden, bis er in der richtigen Position war.
Gewöhnlich dauerte es nicht lange, bis er sie gefunden hatte.
Heute war sie groß, nur ein paar Zentimeter kleiner als er. Sie hatte kurzes dunkles Haar und eine Brille, mit der sie versuchte, unter diesen Umständen so viel wie möglich von Der Strand in sich aufzunehmen. Es bestand natürlich immer die Gefahr, dass sie vor ihm aus dem Zug stieg. Bevor er die Gelegenheit hatte, ihr nahe zu
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