Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
hat, du sollst es nicht tun?«
Anne zündete sich eine Zigarette an, ihre dritte, seit sie mit dem Essen fertig waren. »Du hast mich auch nicht angerufen.«
»Ich dachte, es könnte dir unangenehm sein. Ich habe die Zeitungen gelesen, und jetzt ist klar, dass man mich nicht mehr verdächtigen kann, aber er scheint immer noch irgendwie … ein Problem mit mir zu haben.«
Sie schnippte nicht vorhandene Asche in den Aschenbecher. »Ich habe seit mehr als einer Woche nicht mit Thorne gesprochen.« Bishop hob die Augenbrauen. »Wir haben übrigens nie richtig über dich geredet, Jeremy. Es ist am besten, Beruf und Privatleben getrennt zu halten.«
Bishop beugte sich lächelnd vor, schob seine langen Finger ineinander und stützte sein Kinn darauf. Er blickte ihr tief in die Augen. »Das verstehe ich alles, Jimmy, und ich weiß, dass es schwer für dich ist. Aber was denkst du wirklich?«
Sie hielt seinem Blick stand und versuchte mit aller Macht, sich diesen Mann so vorzustellen, wie Thorne es tat. Sie schaffte es nicht. »Jeremy, ich …«
»Gestern habe ich eine Geschichte über einen morphiumabhängigen Arzt gehört. Er hat das Zeug seinen älteren Patienten verschrieben, dann hat er bei ihnen Hausbesuche gemacht und es sich von ihnen geklaut. Sie sind danach in die Sprechstunde gegangen, weil sie dachten, sie würden im Alter schusselig werden und hätten es verlegt. Er hat sie verständnisvoll angelächelt und das nächste Rezept ausgestellt. Und so weiter.«
Anne war nicht sonderlich schockiert. Viele Ärzte waren von irgendetwas abhängig. Es gab sogar ein Rehabilitationszentrum speziell für diejenigen, die im medizinischen Bereich arbeiteten. »Der Typ, der mir das erzählt hat«, fuhr Bishop fort, »kennt diesen Mann seit über zwanzig Jahren und hatte absolut keine Ahnung.«
Sie blickte ihn an und hielt den Atem an. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern
»Menschen haben ihre Geheimnisse, Anne.«
Anne blickte hinunter auf ihre Zigarette, die sie gerade im Aschenbecher ausmachte. Sorgfältig beseitigte sie jede Spur von Glut. Was erwartete er von ihr als Antwort? War dies nur seine typisch theatralische und provokative Blasiertheit, oder …?
Sie blickte auf, winkte nach der Rechnung und lächelte ihn an. »Apropos Geheimnisse, Jeremy, hast du eine Freundin?«
Seine Stimmung schien von einem Moment auf den anderen umzuschlagen. Sie bemerkte es und dachte daran, sich zurückzuziehen, entschied sich aber dagegen. Sie wollte den Spieß umdrehen, um seine Unbeholfenheit genießen zu können. »Das hast du doch, oder? Warum bist du so schüchtern?« Sie bemerkte so etwas wie eine Antwort in seinen Augen. »Kenne ich sie?«
Er blickte auf die Tischdecke hinunter. »Es ist nichts wirklich Ernstes und wird wahrscheinlich aus allen möglichen Gründen nicht lange dauern, aber wenn ich darüber reden würde, wäre es, als würde ich die Sache irgendwie verfluchen. Sie zu einem frühen Ende verdammen.«
Sie lachte. Woher dieser plötzliche Aberglaube? »Komm schon, seit wann haben –«
»Nein.« Der Klang in seiner Stimme ließ ihr Lachen abrupt abbrechen. Ende des Gesprächs.
»Es wäre, als wünschte ich der Sache den Tod.«
Thorne kam aufgedreht und voller Tatendrang nach Hause. Er musste mehrere Leute anrufen. Seinen Vater. Hendricks. Und Anne natürlich.
Es war passiert, als er aus der U-Bahn-Station Kentish Town gekommen war und sich überlegte, welchen Alkoholladen er auf dem Heimweg noch beglücken könnte. Hinter sich hörte er folgende Auseinandersetzung:
» Big Issue – die Zeitschrift der Obdachlosen …«
»Such dir ’nen verdammten Job!«
»Das ist mein Job, du Arschloch!«
Und dann ging’s los.
Thorne war dazugekommen, kurz nachdem die ersten Faustschläge und Fußtritte ausgeteilt worden waren. Ein verirrter Hieb hatte ihn am Kopf getroffen. Er war zusammengezuckt, hatte den Such-dir-’nen-Job-Typen am Hals gepackt und mit eindeutig zu viel Kraft in den nächsten Hauseingang geschleudert. Der Big-Issue- Verkäufer, der die verstreuten Zeitschriften wieder aufgesammelt hatte, war näher gekommen.
Thorne hatte ihn angeschaut, »Verpiss dich« gesagt und sich wieder dem Mann gewidmet, der ein Zuhause hatte. Und natürlich betrunken oder stoned gewesen war. Ein Student, hatte Thorne vermutet, dem Blut von der Lippe auf sein weißes Hemd tropfte.
Thorne hatte den kleinen Scheißer mit dem Arm gegen die Tür gedrückt und ihm beiläufig ein Knie zwischen die Beine
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