Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
was einige für wohlverdient hielten. Ärzten konnte man nicht länger zutrauen, dass sie sich selbst kontrollierten.
Ganz ähnlich war es bei Polizisten.
Seit Thorne an dem Fall arbeitete, konnte ihn nichts mehr überraschen, was in Krankenhäusern geschah. Er gewöhnte sich an die Strategien der Beschäftigten, die nur versuchten, den Tag hinter sich zu bringen. Trotzdem waren die Ermittlungen im Bristol Royal Infirmary beunruhigend gewesen. Es hatte einige schockierende Enthüllungen gegeben. Eine war unter dem Namen »Abflughalle« bekannt geworden.
Susan, Christine, Madeleine, Helen. Thorne wusste, wie beharrlich die Stimmen derjenigen waren, deren Leben mit einem Fingerschnippen ausgelöscht worden waren. Er hatte Mitleid mit denen, die immer noch die Schreie der neunundzwanzig toten Babys hörten.
Rebecca Bishop arbeitete in der orthopädischen Chirurgie. Während sie ihnen im Flur gleich neben dem Wartebereich auf einem grünen Plastikstuhl gegenübersaß, ließ ihr Verhalten bei Thorne keinen Zweifel daran, was das für Selbstvertrauen zuständige Gen dieser Familie betraf. »Sie haben eine halbe Stunde. Danach assistiere ich bei einer Vorlesung über die Biomechanik von Bruchoperationen. Sie können gerne mitkommen.«
Sie lächelte kalt. Abgesehen von dem dunklen, gekräuselten Haar und dem etwas langen Kinn war die Ähnlichkeit mit ihrem Vater und ihrem Bruder unverkennbar. Sie war eine schöne Frau, wie ihr Vater und Bruder schöne Männer waren. Schön, aber nicht hübsch. Sie hatte nichts Weiches an sich. Thorne fragte sich, wo sich der Einfluss von Sarah Bishop finden ließ. War sie weich gewesen? Oder hübsch?
Vielleicht würde er Jeremy eines Tages fragen, wenn sie Zeit zum Reden hatten. Vielleicht in einem Verhörzimmer.
Throne öffnete den Mund, um zu antworten, doch Rebecca Bishop hatte ihre eigene Tagesordnung. »Sie könnten damit anfangen, mir zu erklären, warum man den Mann zu mir schickt, von dem mein Vater glaubt, er sei verantwortlich für die Schikanen, die man ihm antut.«
Thorne blinzelte in Hollands Richtung. Als Antwort erhielt er den Gesichtsausdruck, der einem Achselzucken entsprach.
»Niemand schikaniert Ihren Vater, Dr. Bishop. Jedenfalls niemand, von dem wir wüssten. Warum ich selbst hierher gekommen bin, hat den Grund, dass wir seine Aussagen ernst nehmen.«
»Freut mich, das zu hören.«
»Aber Sie müssen verstehen, dass wir andere Prioritäten haben.«
Sie stand auf und ging zu einer Anschlagtafel, um etwas nachzusehen. »Zum Beispiel Champagner-Charlie zu schnappen? Ich habe alles darüber gelesen.«
Holland war zufrieden, dass er den netten Kumpel spielen konnte. »Glauben Sie nicht alles, was Sie in den Zeitungen lesen, Dr. Bishop.«
Sie blickte Holland an, und Thorne glaubte, den Anflug eines Lächelns zu entdecken. Mochte sie ihn? Umso besser. Er versuchte, Hollands Blick zu erhaschen, schaffte es aber nicht. Rebecca Bishop drehte sich zu Thorne. Sie hatte die Hände tief in den Taschen einer ausgebeulten Strickjacke vergraben. »Und wird mein Vater verdächtigt, Inspector Thorne?«
Lügen war zwar nicht angenehm, aber einfach. »Nein, natürlich nicht. Er wurde routinemäßig befragt, und jetzt wird nicht weiter gegen ihn ermittelt.«
Sie blickte ihn scharf an. Er spürte nichts. Ärzte hielten ihre Patienten im Dunkeln. Genauso wie Polizisten.
Holland übernahm. »Können wir über die Sache mit der Belästigung reden? Was genau passiert da Ihrer Meinung nach?«
Sie setzte sich. »Ich habe das doch schon alles am Telefon erklärt.« Als sei dies das Stichwort, zückte Holland sein Notizbuch. Thorne bewunderte die zeitliche Abstimmung. Sie seufzte und fuhr fort: »Gut, also, mein Vater bekommt diese Anrufe … ach ja, und da war jemand, der vor seinem Haus Fotos gemacht hat, aber in der Hauptsache sind es die Anrufe.«
»Hat Ihr Vater Ihnen davon erzählt?«
»Nein, mein Bruder James rief mich deswegen an. Mein Vater ist wirklich verärgert und wütend, und James dachte, ich sollte wissen, was da vor sich geht. James und ich reden nicht gerade jeden Tag miteinander, sodass ich glaubte, es sei etwas Wichtiges, als ich seine Nachricht erhielt.« Sie begann, heftig auf einem Fingernagel zu kauen. Sie waren alle völlig abgenagt, einige blutig bis aufs Fleisch. Es wurde Zeit, ein bisschen zu graben.
»Sie und James … stehen sich nicht sehr nahe?«
Sie blickte auf und dachte über eine Antwort nach, vielleicht auch darüber, ob sie überhaupt eine
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