Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders
hüsteln würde, wenn der Vikar den Toten als den »von uns Genommenen« bezeichnete. Nichtsdestotrotz war es eine kluge Vorgehensweise. Sie würden diskret um eine Liste der Anwesenden bitten und diese Trauergäste noch diskreter beim Verlassen der Kirche filmen lassen.
Thorne reckte seinen Hals. In der hintersten Bank saßen sechs oder sieben Schuljungen, ganz steif in ihren »Ausgehanzügen«, wie man die Dinger in Thornes Jugend nannte. Einer von ihnen fing seinen Blick auf und lächelte. Thorne neigte den Kopf unverbindlich und wandte sich ab. Die Lehrer, es waren mindestens fünfzehn oder zwanzig anwesend, saßen zusammen auf der linken Seite. Alle Blicke waren auf den groß gewachsenen, weißhaarigen Herrn am Pult gerichtet. Die Stimme des Direktors hallte durch die Kirche, so wie sie jeden Morgen durch die Aula der Schule hallte. Thorne sah den melancholischen Ausdruck auf Marsdens schmalem Gesicht und vermutete, dass er wohl jeden Morgen bei der Schulversammlung genauso aussah.
Die Angehörigen saßen in der vordersten Reihe. Der Neffe und die Nichte im Teenageralter. Die Schwester in ihren Vierzigern. Der Vater …
Thorne betrachtete den alten Herrn und sah den Schatten von Charlie Garners Großvater. Vielleicht dreißig Jahre älter und ein gutes Stück gebrechlicher, doch der gleiche gequälte Gesichtsausdruck. Als sei er innen ausgehöhlt worden, als sei nichts mehr übrig, um die Knochen an Ort und Stelle zu halten.
Die Gemeinde erhob sich, um erneut zu singen. Der Organist spielte die Eröffnungstakte von »Abide With Me«. Als Thorne stand, fing er den Blick des Direktors auf, der gerade an seinen Platz zurückgekehrt war, nachdem er Ken Bowles seinen Respekt gezollt hatte. Thorne öffnete den Mund, um zu singen, und merkte, dass er kein einziges Wort der Rede mitbekommen hatte.
Später, vor der Kirche, sahen die Leute zu, wie der Sarg in den Leichenwagen geschoben wurde. Da McEvoy verschwunden war, um ihr Make-up aufzufrischen, gesellten sich Malcolm Jay und Derek Lickwood zu Thorne. Sie zündeten sich beide gierig Zigaretten an, und die drei standen herum und wussten nicht, wohin mit ihren Händen, während sie versuchten, möglichst nicht allzu sehr wie Polizisten auszusehen.
»Inspector Thorne …?«
Auf den Klang der vertrauten Stimme hin wandte Thorne sich um und sah sich einem lächelnden Andrew Cookson gegenüber, dem Lehrer, der ihn durch die Schule geführt hatte. Der Lehrer, von dem Thorne vor zwei Wochen fälschlicherweise angenommen hatte, er sei der Tote, den sie heute beerdigten.
»Mit der ganzen Truppe hier?«, sagte Cookson und lachte.
Thorne nickte und wandte sich seinen Kollegen zu. Augenscheinlich war es ihnen nicht gelungen, als Trauergäste durchzugehen. »Detective Sergeant Jay, Detective Chief Inspector Lickwood …«
»Andrew Cookson. Ein Kollege von Ken.«
Während man sich gegenseitig die Hand schüttelte, wanderten Thornes Augen zu dem Mann, der hinter Cooksons Schulter stand. Sein Schädel war vollkommen kahl und übersät mit braunen Flecken. Er stützte sich auf einen Stock, und sein Blick war in die Ferne gerichtet. Sein Kiefer war ständig in Bewegung, als kaue er auf etwas unendlich Zähem herum.
Unvermittelt wandte er den Kopf zu Thorne. »Danke, dass Sie gekommen sind.«
»Tut mir Leid wegen Ihres Sohnes«, erklärte Thorne.
Cookson trat einen Schritt zurück und nahm den Alten am Ellbogen. »Darf ich vorstellen, Leslie Bowles, Kens Vater.«
Thorne sah Jay und Lickwood einen beklommenen Blick wechseln. Bevor sie die Gelegenheit hatten, darauf linkisch etwas zu erwidern, ergriff der alte Mann das Wort.
»Sehr nett von Andrew, sich um mich zu kümmern »Seien Sie nicht albern«, unterbrach ihn Cookson.
»Sind ja nicht zusammen aufgewachsen.«
»Ich kannte Ken …«
»Nicht so gut wie andere.«
Achselzuckend schüttelte Cookson den Kopf. Bowles trat einen kleinen Schritt näher zu Thorne und den anderen. »Angeblich hört es irgendwann auf, nicht wahr?«, sagte er. »Man hört immer, es kehrt sich um, wenn man alt wird und sie sich um einen kümmern müssen. Die Eltern werden die Kinder …« Eine gebildete Stimme. Erstaunlich kräftig und tief. Thorne wurde klar, dass der alte Herr wesentlich härter im Nehmen war, als es den Anschein hatte. »Kompletter Unsinn, wirklich. Selbst wenn sie einen bekochen und für einen einkaufen, verstehen Sie? Selbst wenn sie einem den Pyjama zuknöpfen und so tun, als interessierten sie sich für die albernen
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