Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders
hatte, wenn er merkte, dass ihm die Milch ausgegangen war, war auch nichts Ungewöhnliches.
Diesen Laden suchte er sechsmal die Woche auf, wenn nicht öfter. Die drei Brüder, denen er gehörte, waren Türken, vielleicht auch Zyprioten. Er wusste nicht, wie sie hießen. Manchmal lächelten sie, wenn er Brot, die Zeitung und Bier kaufte, aber sie schienen kein allzu großes Interesse daran zu haben, ihn kennen zu lernen.
Als Thorne in seine Tasche griff, um die Milch zu bezahlen, stellte er sich vor, er habe seine Geldbörse zu Hause vergessen. Ob sie ihn bis zum nächsten Mal anschreiben lassen würden? Nachdem er in den letzten eineinhalb Jahren mindestens sechsmal die Woche in ihren Laden gekommen war? Wahrscheinlich nicht. Vielleicht, wenn er sich als Polizist auswies.
Als er vor dem Geschäft stand und darauf wartete, dass die Ampel auf Grün schaltete, studierte er die Anzeigen im Fenster. Die, an der sein Blick hängen blieb, war mit rotem Filzstift auf die Rückseite einer Postkarte gekritzelt. Voller Rechtschreibfehler, doch die angebotenen Dienste waren schlicht genug. Es war lange her.
Thorne zog einen Stift heraus und notierte sich die Nummer auf dem Milchkarton.
Einundzwanzigstes Kapitel
Sie hatten Karen McMahon binnen zwölf Stunden gefunden.
Oben vom Bahndamm aus konnte man sehen, wo das Team arbeitete. Die unter einem weißen Zelt verborgene Fläche um das Grab hob sich stark gegen die Braun- und dunklen Grüntöne des hohen Grases und Farngewirrs ab. Ein weißes Quadrat, das sich über den Knochen aufblähte.
Holland begann, den Hügel hinunter zur Grabungsstelle zu laufen, McEvoy war etwa drei Meter von ihm entfernt. Die beiden waren zusammen hierher gefahren, mit noch einem weiteren Detective Constable und einem Auszubildenden im Wagen. Es war nicht viel geredet worden auf der Herfahrt, und die wenigen Gespräche hatten sich nicht durch Brillanz ausgezeichnet. Jetzt tasteten sie sich in ihren raschelnden, weißen Plastikanzügen vorsichtig den Abhang hinunter. Aliens im Anmarsch, unsicher auf den Beinen.
Das Grab war in einem der Entwässerungsgräben entdeckt worden, die am Fuß eines jeden Abhangs den Bahndamm entlangliefen. Sobald der Wildwuchs zurückgeschnitten worden war, war es nicht schwer zu sehen und zu erreichen gewesen. Der Graben war etwas über einen Meter breit, aber man konnte sich nur schwerlich darin bewegen. Die Seiten waren schlammig und drohten, jeden Augenblick einzustürzen – Stunden harter Arbeit, durch die die Überreste von Karen McMahon offen gelegt worden waren, konnten durch einen ungeschickten Schritt zunichte gemacht werden.
Holland und McEvoy setzten ihre Masken auf und schlüpften unter das Zelt. Es war voll gestopft und überfüllt. Mehr als ein halbes Dutzend Leute standen bereits geduckt und gebückt herum, denn das Zelt war zu niedrig, um darin aufrecht zu stehen. Die Sonne war noch nicht lange heraußen, und es war kein warmer Morgen, aber die Hitze unter der Plane war erdrückend. Obwohl die Leuchten vor dem Zelt ausgeschaltet worden waren, brannten drinnen noch zwei starke Lampen, und es wurde immer heißer. In seinem Plastikanzug spürte Holland, wie ihm der Schweiß den Rücken hinablief, als er vorsichtig hinter Phil Hendricks trat, der am Grabrand kauerte, und zu Thorne aufrückte, der tief in ein Gespräch mit Doctor James Pettet vertieft war.
Thorne sah hinüber zu Holland und McEvoy, als sie das Zelt betraten. Kurz schoss ihm durch den Kopf, ob zwischen den beiden wohl was lief. Etwas lag in der Luft …
Er schob den Gedanken beiseite und kehrte zu einem Gespräch über Tod und Verwesung zurück.
Was forensische Archäologen betraf, war James Pettet wahrscheinlich erste Sahne, doch als Mensch ließ er zu wünschen übrig. Sollte Thorne ihm nie wieder über den Weg laufen, würde er deshalb keinen Deut schlechter schlafen.
»… Feuchtigkeit ist der Feind der Zersetzung. Feuchtigkeit und Wärme zusammen sind das Schlimmste, was passieren kann. Oder das Beste natürlich, kommt auf den Standpunkt an.«
Hinter seiner Maske atmete Thorne langsam und tief aus und sehr schnell ein. Auf den Standpunkt?
»In einem Entwässerungsgraben verscharrt, und das im Hochsommer – bemerkenswert, dass wir überhaupt etwas gefunden haben.« Pettet hatte eine tiefe Stimme und er sprach, als drohe er jeden Augenblick einzuschlafen, erschöpft davon, den Idioten ständig aufs Neue alles erklären zu müssen. »Das Fleisch ist völlig verschwunden und Sie
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