Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders
Blick auf seine Uhr. Es war kurz nach halb neun.
Er schaute hinunter in den Hof, auf den hohen grünen Zaun und die ruhige Straße jenseits des Zauns. Er konnte eines der Autos erkennen, das etwa hundert Meter weiter unten parkte, konnte gerade noch die zwei Gestalten drinnen ausmachen. Er stellte sich vor, wie müde die beiden Polizisten sein mussten, wie gereizt. Und dabei verschwand seine eigene Gereiztheit wie schmutziges Wasser im Abfluss. Nach ein oder zwei Minuten sagte er schließlich: »Ich bin beeindruckt, dass Sie so lange gewartet haben.«
Palmer schob die Brille hoch und schüttelte leicht den Kopf. »Womit?«
»Mit der Ich-bin-nicht-so-wie-er-Rede.«
»Ich wollte nicht …«
Thorne wandte den Blick nicht von der Straße ab. Er hob die Hand, um Palmer zum Schweigen zu bringen. »Wenn Sie mir damit kommen wollen, sparen Sie sich die Mühe. Das interessiert mich nicht die Bohne. Und ehrlich gesagt, denke ich, dass Sie im Prinzip schlimmer sind.« Er wandte sich um und sah, wie Palmer den Kopf senkte und sich an die Brust fasste. »Nicklin, der, den Sie immer noch für Ihren Freund halten, ist ein Verrückter. Ein Psychopath, ein Soziopath oder was auch immer. Ich weiß nicht, warum er mordet. Nicht genau. Es gefällt ihm, es macht ihn geil, es ist die einzige Art und Weise, auf die er sich ausdrücken kann, der armselige Pisser. Und es bedeutet einen zusätzlichen Kick für ihn, wenn er auch noch Sie dazu bringt … Bei Ihnen ist es etwas einfacher, stimmt’s? Wir wissen genau, warum Sie morden.« Palmer hob den Kopf und blinzelte langsam hinter seinen Brillengläsern. Thorne ging auf die schüchterne Bitte in Palmers Augen ein.
»In Ordnung, Vergangenheitsform, wir wissen genau, warum Sie gemordet haben. Sie haben gemordet, weil er Ihnen den Auftrag dazu gab. So einfach ist das. In meinen Augen macht Sie das schlimmer als ihn.« Thorne wandte sich wieder zum Fenster um. »Er schlachtet Frauen vor den Augen ihrer Kinder ab, aber Sie sind schlimmer.«
Es war einige Minuten später, als Thorne den Sessel aufseufzen hörte, weil Palmer aufstand, und noch ein paar Sekunden später sah er einen Schatten über den Boden zu seinen Füßen kriechen und spürte die Anwesenheit des Mannes hinter sich.
»Hatten Sie jemals wirklich Angst, Inspector?«
Draußen war es kalt und klar, doch als er in die Nacht hinausblickte, tauchten die Gedanken gegen seinen Willen auf.
Thorne sah, wie es schüttete und er zu schnell durch die dunklen, nassen Straßen Südwestlondons fuhr, einem Auto folgte, dessen Schlusslichter aussahen wie die Augen eines Monsters …
Er schlich durch die Gänge eines Hauses, das erfüllt war von Wispern, die Stimmen jener, für die dieses Haus der Ort war, an dem sie ihr Leben ausgehaucht hatten.
Er stieg, ohne etwas zu sehen, in einen Dachboden hinauf, durch eine Luke in ein Zimmer, das bald voller Blut sein würde. Was er sah, als sich seine Augen an das helle Licht gewöhnt hatten, traf ihn wie ein Hieb auf die Brust, raubte ihm den Atem wie ein Faustschlag …
Jetzt, ein Jahr später, war die Nacht kalt, aber klar, und als die Erinnerung verblasste, fühlte Thorne, wie sein Herz sich beruhigte. Während er zunehmend weniger flach atmete, beobachtete er unbewegt, wie das Spiegelbild des Mannes im Fenster größer wurde und der Mörder näher kam.
Palmer sprach langsam, die tiefe, näselnde Stimme bar jeden Gefühls, fast roboterhaft. Er starrte geradeaus, als spräche er zu dem verzerrten Abbild seiner selbst in dem Fenster. »Woran immer Sie denken, so schrecklich es ist oder war , stellen Sie sich vor, Sie leben damit. Nicht ab und zu. Nicht dann, wenn Sie einen über den Durst getrunken haben und der Gedanke wie aus dem Nichts vor Ihnen auftaucht. Nicht mitten in der Nacht, wenn Sie schweißgebadet aufwachen und Gott oder wem auch immer danken, dass der Schrecken langsam von Ihnen abfällt, sondern unentwegt . Ich spreche davon, mit einer Furcht zu leben, die Sie lähmt, die aus Ihrer Haut etwas Feuchtes, Fremdes macht, das Sie nicht mehr erkennen, selbst wenn Sie sie berühren. Die Ihren Magen zum Brennen bringt und Ihr Blut zum Gefrieren. Die Sie lähmt und isoliert, von jedem Menschen außer dem einen, vor dem Sie sich so fürchten, der für Sie der personifizierte Schrecken ist, an den Sie für immer gebunden sind.
Und nun stellen Sie sich einen Punkt vor, an dem Sie ohne diese entsetzliche Angst, sosehr Sie sie auch hassen und fürchten, nicht mehr sein können. An dem Sie
Weitere Kostenlose Bücher