Tom Thorne 05 - In der Stunde des Todes
Thorne.
»Wie gesagt, ein, zwei Tage.«
»Und wir könnten es schnell über die Bühne bringen. Ohne lange Anlaufzeit. Wir machen’s einfach.« Er sah Jesmond in die Augen und versuchte, gelassen zu wirken, während sein Magen sich verkrampfte. »Kommen Sie schon. Sie haben diese kaputten Typen gesehen. Wie sie mit einer Dose billigem Bier in der Hand durch die Gegend torkeln und auf Gott und die Welt schimpfen. Sie kennen mich. Wo liegt da das Problem für mich?«
Fünftes Kapitel
Die Laune des Besitzers hatte sich offensichtlich nicht gebessert, als er den Tisch abräumte. Holland hatte zu Hause bereits gefrühstückt, gab sich jedoch Mühe mit seinem Schinkensandwich. Thorne hatte in Rekordzeit das größte aller großen englischen Frühstücke verdrückt.
»Die Eier waren hart«, bemerkte Thorne.
»So? Aber gegessen haben Sie sie. Wenn’s Ihnen hier nicht passt, dann verschwinden Sie.«
»Wir hätten gerne noch zwei große Tassen Tee.«
Der Besitzer verdrückte sich wieder hinter seinen Tresen. Inzwischen war wesentlich mehr los in dem Café, und er hatte alle Hände voll zu tun. Es ließ sich daher nur schwer sagen, ob er ihnen den Tee tatsächlich bringen würde.
»Könnten Sie nicht einen Grund finden, den Typen einzusperren?«, fragte Thorne. »Zum Beispiel, weil er innerhalb einer geschlossenen Ortschaft mit einer Riesenwampe und einer fiesen Laune herumläuft?«
»Ich bin mir nicht sicher, wen er mehr hasst, Bullen oder Penner. Anscheinend sind wir schlecht fürs Ambiente.«
»Scheiß auf den Typen. Ist ja nicht das Ritz hier.«
»Auf dem Weg hierher hab ich ein paar Zeitungen gekauft«, sagte Holland. Er zog einen Stapel aus seiner Tasche und legte sie auf den Tisch. »Unser Bild von dem ersten Opfer ist heute so gut wie auf allen Titelseiten.«
Thorne griff nach den Zeitungen. »Fernsehen?«
Holland nickte. »Läuft auf allen Kanälen. Und ist der Auf macher von London Tonight . Schwer zu übersehen …«
Thorne blickte gebannt auf die Seite vor ihm. Das erste Opfer hatte lange Haare und einen Bart. Die Augen mit ihren schweren Säcken wirkten lebendig, dunkel und zusammengekniffen, Aufmerksamkeit einfordernd: Erkenn mich.
»Was halten Sie davon?«, fragte Holland.
Thorne überflog den Text neben den Bildern. Eine Zusammenfassung der wesentlichen Fakten: grotesk, wie viel man über den Tod dieses Mannes wusste und wie wenig über das Leben, das man ihm genommen hatte.
Und dann das Tattoo. Die seltsame Buchstabenkombination, die man auf der Schulter des Opfers entdeckt hatte. Von Anfang an hatte man große Hoffnung darauf gesetzt – wie Thorne im Pub von Brigstocke erfahren hatte damit die Leiche identifizieren zu können. Doch die Hoffnung hatte sich als ebenso flüchtig erwiesen, wie das Tattoo dauerhaft war.
AB- S .O.F.A.
Die Entscheidung, auf den Abdruck eines Fotos zu verzichten, war eine Frage des Geschmacks gewesen, die sich beim Gesicht des Opfers nicht gestellt hatte: Hier hatten sie keine andere Wahl, als ein computergeneriertes Bild zu nehmen. Und das nicht nur, weil Einzelheiten nicht mehr zu erkennen waren. Es war nicht einmal als Gesicht zu erkennen: Jeder Gesichtszug war in den Kopf des Opfers getreten oder gestampft worden. Der unbeschädigte Kopf, den nun tausende von Leuten über ihr Müsli hinweg anstarrten, war von einem Mikrochip auf Basis der Knochen und Blutergüsse erstellt worden.
»Wie in King’s Cross«, sagte Thorne. »Das haben sie mit dem Toten damals auch gemacht, den sie nicht identifizieren konnten.«
Bei dem Brand im November 1987 in der U-Bahn-Station King’s Cross waren einunddreißig Menschen umgekommen, doch nur dreißig Leichen hatten identifiziert werden können. Ein Toter war anonym geblieben – trotz der zahllosen Aufrufe, sich zu melden, falls man den Toten kenne. Thorne konnte sich noch an das Gesicht erinnern: die Zeichnung auf dem Poster, das in hundert U-Bahn-Stationen hing; eine Tonrekonstruktion des Kopfes wurde mühevoll hergestellt und im Fernsehen vorgeführt. Der Tote, der jahrelang nur als Opfer 115 bezeichnet wurde, war erst vor einem Jahr identifiziert worden, also beinahe zwanzig Jahre nach seinem Tod. Seltsamerweise war es auch ein Wohnungsloser gewesen. Viele Kommentatoren in der Presse zeigten sich wenig überrascht. Es sei offensichtlich, dass er auf der Straße gelebt habe, sonst hätte sich doch früher jemand gemeldet. Thorne war sich da nicht so sicher. Er bezweifelte, dass ein enger Zusammenhang zwischen
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