Tom Thorne 05 - In der Stunde des Todes
dass er nicht alles genau dann bekam, wenn ihm danach war. Es war eine Frage der Möglichkeiten und des Platzes. Einen Ort, um sich hinzulegen, es sich bequem zu machen, zu pinkeln …
Er begann, in seinem Kopf eine Liste all dieser Dinge zu erstellen, und es dauerte nicht lange, bis ihm klar war, was er brauchte. Er konnte es nicht fassen, dass er zu dumm gewesen war, sich früher darum zu kümmern. Zu Hause hätte er doch auch ein Bier getrunken, oder? Er nahm sich fest vor, sich morgen ein paar Dosen zu besorgen und sie in seinem Rucksack zu verstauen. Vielleicht auch was Stärkeres.
Gelangweilt und verängstigt setzte er sich auf und lehnte den Kopf an das auf Hochglanz polierte Holz der Türen, starrte die Fotos um sich herum an. Lauschte dem Lärm der Leute auf der Straße, den beschleunigenden Autos. Roch das Aftershave am Mantel seines Vaters.
Vermutlich war es noch nicht mal ein Uhr. Es kam noch immer alle paar Minuten jemand vorbei. Thorne fragte sich, wie lange es wohl dauerte, bis ihm das so egal war, dass er nicht einmal mehr aufblickte.
* * *
Im Nachhinein tat ihm, was den Mord an dem Fahrer anging, nur eines Leid: Er hatte diesem Arsch nicht genug Zeit gelassen, ihn anzusehen. Nur zu gerne hätte er das Entsetzen in seinen Augen gesehen, wenn er kapierte, was Sache war. Nur eine Sekunde, bevor der erste Tritt …
Andererseits brachte es nichts, darüber nachzugrübeln. Die meisten waren so weggetreten, dass sie praktisch nichts mehr kapierten. Der Fahrer hatte ihn in seinem Zustand höchstwahrscheinlich gar nicht erkannt. Er stank nach Bier und nach Straße. Dieser scharfe Pennergeruch. Scharf und zugleich modrig, als hätten Katzen in eine Altkleiderkiste gepisst.
Er schaltete das Badezimmerlicht aus und ging in das dunkle Schlafzimmer, überlegte, ob er MTV einschalten sollte. Vielleicht lief Metal. Zwanzig Minuten Workout wären nicht schlecht. Er entschied sich dagegen und zog sich aus. Morgen war auch noch ein Tag. Er hatte spät gegessen und noch einen vollen Magen.
Bis jetzt war in London alles glatt gelaufen. Umso ärgerlicher war es, dass der Letzte, Hayes, überlebt hatte. Nach dem, was man in den Nachrichten hörte und in der Zeitung las, war er bald hinüber, aber es machte ihm trotzdem zu schaffen. Er fluchte in den Spiegel und trat gegen alles, was ihm in die Quere kam. Man erledigte seinen Job ordentlich, dann konnte man stolz sein. Das war wichtig. Ein Mann tut, was ein Mann tun muss.
Er schaltete den Fernseher ein. Die Reflexion vom Bildschirm tanzte über seine Kleidung, während er sie sorgfältig zusammenlegte und auf dem Stuhl an seinem Bettende ablegte.
Sein Entschluss stand fest. Er musste noch einen erledigen. Nur für sich. Und er hatte vor, sich besonders reinzuhängen, weil er beim Letzten gepfuscht hatte. War zwar nicht nötig, aber es schadete auch nicht. Natürlich kostete ihn das wieder einen Schein, aber ein Zwanziger pro Kopf war nicht zu viel für eine so verdammt gute Truppenverstärkung.
Mit Unterhemd und -hose bekleidet schlüpfte er unter die Bettdecke und begann auf der Fernbedienung herumzudrücken. Nachdem er mehrmals nachgesehen hatte, was auf den einzelnen Sendern lief, war klar, dass ihn nichts davon interessierte, aber er machte dennoch weiter. Methodisch zappte er sich mit abgeschaltetem Ton durch die einzelnen Kanäle.
Als er fertig war, richtete Thorne seine Hose und drehte sich von der Mauer weg – und sah sich einem Beobachter gegenüber.
»Pass mal lieber auf, Kollege. Da hängen ein, zwei Bullen rum, die dich wegen so was hochgehen lassen. Macht denen richtig Spaß.«
Er stand Thorne direkt gegenüber, auf der anderen Straßenseite, mit einer grauen Decke um die Schultern. Anfang zwanzig, schätzte er. Das Gesicht unter der blonden Punkfrisur war fein geschnitten, und als der Junge an seiner Zigarette zog, bildeten sich tiefe Höhlen unter seinen Wangenknochen.
»Ich kann dir keine halbe Minute von hier eine Stelle zeigen, die ungestörter und verdammt viel sicherer ist. Und bis zwölf Uhr kannst du immer bei McDonald’s rein, wenn du mal musst. Der am Trafalgar Square unten hat manchmal auch länger auf. Pinkeln kannst du überall, aber nichts geht über das große gelbe M, wenn du kacken musst.« Er streckte eine Hand unter der grauen Decke hervor, um die Zigarette aus dem Mund zu nehmen.
Ein paar Sekunden lang sagte Thorne kein Wort. Der Junge wirkte freundlich, dennoch war Vorsicht angebracht. Machte auf alle Fälle den
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