Tom Thorne 05 - In der Stunde des Todes
die weitaus schlimmer waren, als ein paar Antworten aus jemandem herauszuprügeln.
Holland redete, und Thorne antwortete darauf, aber er dachte dabei an den Geruch von verbranntem Fleisch unter einem Dampfbügeleisen. Daran, was Jesmond über das härene Büßergewand gesagt hatte. Daran, wie gut das Bier schmeckte …
Er wachte abrupt auf, hatte keinen Zweifel, dass er beobachtet wurde.
Das Zimmer, in dem er stand, wurde an den Kanten unscharf und verschwand schließlich ganz. Einer der Männer war sein Vater gewesen. Ziemlich, aber nicht ganz so wie vor dem Ausbruch seiner Alzheimer-Krankheit. Ohne die brutalen Stimmungsschwankungen und die sprachlichen Ausrutscher. Stattdessen war da nur dieser unverwechselbare Gesichtsausdruck seines alten Herrn: ein amüsiertes angedeutetes Lächeln, als wisse er, dass er soeben etwas Komisches gesagt, jedoch nicht die geringste Ahnung hatte, was genau. Und so waren die drei – sein Vater, dessen Freund Victor und Thorne selbst – in Lachen ausgebrochen, bis nur noch dieses Lachen wichtig war. Sogar die ersten Rauchwölkchen, die unter der Tür durchkamen, waren nur ein weiterer Grund gewesen, hysterisch zu lachen.
Keuchend setzte Thorne sich auf.
Seine Zunge klebte dick und ekelhaft an seinem Gaumen. Er hätte nicht auf Anhieb sagen können, was der Unterschied war zwischen Neujahr und Neu-Delhi, geschweige denn zwischen Besorgtheit und Verachtung auf den Gesichtern des jungen Pärchens, das ihn anstarrte. Also brüllte er die beiden an, beschimpfte sie als Arschlöcher und schrie, sie sollten sich verziehen. Dann lehnte er sich gegen die Tür hinter ihm und ließ sich auf den Boden sinken.
Eine Weile schaute er durch einen Vorhang aus Nieselregen hinaus auf die Straße. Dann schloss er die Augen. Und wünschte sich, es gäbe einen Weg zurück in das Zimmer voll Lachen und Rauch.
Neuntes Kapitel
Für Robert Asker begann alles mit der schlichten, aber überwältigenden Erkenntnis, dass unter seiner Dusche Menschen wohnten …
Er hörte sie, auch wenn ihre Stimmen anfangs unverständlich waren, weil das Wasser zu laut war. Erst später, als es nicht mehr rauschte, wurden die Stimmen etwas deutlicher, aber sie waren immer noch nicht zu unterscheiden. Tropfnass und regungslos stand er über dem Abfluss und schaute hinunter. Irgendwo da unten war ein schwaches oranges Glühen zu sehen, eine Art Licht. Ihm war klar, was das bedeutete: Sie lebten in den Rohren, und das hieß, sie konnten sich schnell von Ort zu Ort bewegen und praktisch überall im Haus mit ihm reden.
Es dauerte nicht lange, und sie nutzten die großen Abflusskanäle, um ihm auch draußen überallhin zu folgen. Dann hörte er die Stimmen in der Arbeit und im Auto. Es waren immer mehrere Stimmen zugleich, die einander übertönten, sodass er nur ein Wort von zehn verstand und nie richtig kapierte, was sie da eigentlich redeten. Was sie ihm zu sagen versuchten.
Natürlich ging es erst wirklich los, als er seiner Frau von den Stimmen erzählte. Da entglitt ihm die Kontrolle über alles. Ab diesem Augenblick zerbrach sein Leben …
Nicht lange, nachdem er es ihr erzählt hatte, wurde er entlassen. Schwer zu sagen, ob sie sich so verhielt, wie sie sich verhielt, weil sie wütend über seine Entlassung war oder weil sie sein ständiges Gerede darüber nervte, dass er Stimmen hörte. Wie auch immer, er wusste, sie zog sich von ihm zurück und würde ihm seine Tochter wegnehmen. Ihm entging nicht, dass sie das Mädchen immer weniger zu ihm ließ, sie sogar mitnahm, wenn sie nur für ein paar Minuten wegmusste.
Sie hatte Angst davor, ihre Tochter allein mit einem Verrückten im Haus zu lassen.
Er schlief nicht. Nachts waren sie am lautesten, er lief, die Hände über den Ohren, durchs Haus und hatte dabei die Musik so laut aufgedreht, dass sich die Leute noch Häuser weiter regelmäßig bei der Polizei beschwerten.
Sie brachte ihn dazu, mit Leuten darüber zu reden. Bei einem halben Dutzend Ärzten war er, aber nichts, was sie ihm gaben, änderte etwas. Außer dass er depressiv und dann wieder aufbrausend wurde, was bedeutete, dass er herumbrüllte. Er brüllte, weil er es leid war, dass ihm niemand zuhörte, und er brüllte, weil er sich trotz des ständigen Gequassels Gehör verschaffen wollte. Nachdem er angefangen hatte zu brüllen, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihn verließ.
Es ging Schlag auf Schlag, Job, Frau, Kind, Haus …
Danach kam das Krankenhaus, gleich mehrere Aufenthalte.
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