Tom Thorne 05 - In der Stunde des Todes
…«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Ihnen fällt nichts in der Richtung ein?«
»Das passiert doch jedem mal, oder?«
»Ja, aber bei jedem funktionieren die chemischen Abläufe im Gehirn anders.«
»Er hatte immer Kumpel und Freundinnen und so. Und die meiste Zeit ist er genauso gut drauf wie der Rest der Menschheit. Aber er hat einfach seit Ewigkeiten diesen Tick, immer wieder mal zu verschwinden. Keine Ahnung, warum. Ich weiß nicht, was der Auslöser ist. Ich möchte ihn einfach nur finden und diesmal besser auf ihn aufpassen. Dafür sorgen, dass ihm geholfen wird.«
Sie regte sich wieder auf, und ihre Stimme verriet, dass sie den Tränen nahe war. Hendricks fand es merkwürdig, dass sie so wenig über ihren Bruder wusste, wo er ihr offensichtlich so viel bedeutete. Sie wich aus, wenn es um konkrete Fragen ging. Andererseits war das typisch, wenn man etwas verdrängte. Er hatte den Verdacht, dass sie sich Vorwürfe machte, sich die Schuld gab für das, was ihrem Bruder zugestoßen war, hätte zustoßen können. Was tun? Das Tattoo fiel ihm ein und Kitsons Aussage im Krankenhaus. Wenn Chris Jago tot war – und seine Schwester hatte das augenscheinlich für möglich gehalten –, dann wusste er vielleicht einen Weg, wie er ihn finden konnte. Aber zuerst musste er nach Hause oder zurück in sein Büro im Krankenhaus …
Sie starrte ihn an. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Sind Sie schwul?«
Ihre Direktheit verblüffte Hendricks. Er brauchte eine Sekunde, bevor er losprustete. »Ja, allerdings.« Eine Möglichkeit schoss ihm durch den Kopf. »War Chris schwul?«
»Lieber Gott, nein«, sagte sie. »Ich hab einen schwulen Arbeitskollegen, und irgendwie sind Sie wie er.«
Sie fuhren weiter und plauderten, bis der Verkehr am Ende der Tottenham Court Road flüssiger wurde. Hendricks warf einen Blick auf die Uhr. »Wird knapp, aber ich denke, wir schaffen es«, erklärte er.
Susan Jago neben ihm umklammerte die Bügel ihrer Tasche etwas fester.
Chloe Holland tat ein paar unsichere Schritte auf ihren Vater zu und berührte ihn mit dem Kopf am Knie. »Dad …«
Holland hob seine Tochter hoch, um sie zur Couch in der Wohnzimmerecke zu tragen.
»Komm schon, Kleine. Lass dich noch mal schnell knuddeln, bevor es ab in die Heia geht …«
Seine Lebensgefährtin, Sophie Wagstaffe, stand in der Tür. »Mach bloß nicht zu viel Rambazamba, Dave. Sonst wird sie wieder munter.«
Er wollte gerade bemerken, dass ein bisschen Rambazamba ihnen nicht schaden könnte, verkniff es sich jedoch. Der Mangel daran war mit ziemlicher Sicherheit ihm zuzuschreiben. Natürlich waren sie beide abends todmüde und gereizt, aber er brachte zusätzlich den Frust wegen des aktuellen Falls mit nach Hause. Seine üble Laune legte sich über alles. Er konnte Sophie keinen Vorwurf daraus machen, dass sie ihre Ruhe haben wollte.
Die Kleine deutete auf ihr Lieblingsvideo, das vor dem Videorekorder auf dem Teppich lag, und sagte: »Arnie.«
»Barney, ja. Braves Mädchen …«
In ein paar Tagen wurde seine Tochter ein Jahr alt.
Chloe war gerade rechtzeitig auf die Welt gekommen, um seine Beziehung mit Sophie vor dem endgültigen Aus zu bewahren. Denn mit der Schwangerschaft war plötzlich alles anders. Sophie führte die blöde Affäre, die er gehabt hatte, nur noch selten gegen ihn ins Feld, und wenn sie mit erhobenen Stimmen diskutierten, dann ging es meistens um den Job. Ob er sich nicht endlich etwas suchen wollte, das ein klein wenig sicherer war? Und ein klein wenig besser bezahlt, bevor er vollkommen vereinnahmt wurde?
Nachdem Chloe schon eine Weile da war und sie über den herzerschütternden, freudigen Schock hinweg waren, redeten sie wieder über ihre Zukunft, wobei sie allerdings nur selten laut wurden. Dazu fehlte ihnen die Energie. Die Wohnung in Elephant and Castle, in der sie seit Jahren gemeinsam wohnten, war nun viel zu klein, daran bestand kein Zweifel. Sie überlegten sich, ob sie umziehen sollten, vielleicht ganz raus aus London. Und sie beschlossen, Holland sollte die Prüfung zum Sergeant machen, aber die Gehaltserhöhung wurde mehr als aufgehoben durch die zusätzliche Arbeitsbelastung. Nachdem Sophie wieder unterrichtete und die Kinderbetreuung bezahlt werden musste, standen sie nicht besser da, weshalb in absehbarer Zeit kein Umzug drin war.
»Komm schon, Dave.«
»Gut …«
»Ich muss sie wickeln, und dann bring ich sie ins Bett.«
»Nur eine Minute …«
Und immer diese Müdigkeit, es wurde einfach
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