Tom Thorne 05 - In der Stunde des Todes
einbog. Thorne folgte ihm.
Es war eines dieser typischen Londoner Sträßchen, die sich in hunderten von Jahren nicht verändert hatten. Es schien, als bewegten sich die fensterlosen Gebäude aufeinander zu, denn ihr Abstand war in den oberen Stockwerken geringer als unten. Die schwarzen Ziegel waren schmierig, der Boden uneben und voller Pfützen.
Als am anderen Ende eine Gestalt auftauchte, erstarrte Thorne.
»Ist schon in Ordnung«, sagte Spike. Er ging zu dem Mann, der offensichtlich auf ihn gewartet hatte, während Thorne blieb, wo er war, um alles aus der Ferne zu beobachten.
Während er zusah, wie Spike den Deal machte, dachte er über die verschiedenen Obdachlosentypen nach. Die Junkies, die Alkoholiker, die Verrückten. Ihm fiel auf, dass jeder der bislang identifizierten Toten zu einer anderen Gruppe gehörte: Mannion hatte Drogen genommen, Hayes war ständig mit einer Flasche in der Hand anzutreffen gewesen, und bei Radio Bob hatte zweifelsohne eine Schraube locker gesessen. War das Zufall? Oder war dies Teil eines Plans, nach dem der Mörder vorging?
Dank dieser Frau, die angerufen hatte, weil sie glaubte, der Tote könne ihr Bruder sein, hatten sie womöglich inzwischen bereits den Namen des ersten Opfers. Ob er in dieses Muster passte? Die Autopsie hatte nicht viel ergeben. Jedenfalls hatte er keine Drogen genommen oder exzessiv getrunken …
Thorne machte kehrt und lief langsam zur Straße zurück.
Was wohl seine Organe, beschädigt, wie sie waren, einem wissbegierigen Pathologen preisgeben würden? Was sie zu ihrer Rechtfertigung vorzubringen hätten?
Er blieb stehen und lehnte sich gegen eine Mauer. Hoffentlich waren seine Innereien, wenn es so weit war, noch an Ort und Stelle und intakt. Fingen schnell Feuer und verbrannten mit dem Rest, ohne irgendwem auch nur ein Fitzelchen verraten zu haben.
»Warum haben Sie Ihren Bruder nie als vermisst gemeldet?«, fragte Hendricks.
»Ich hab die ganze Zeit gehofft, er taucht irgendwann wieder auf. Das hat er immer gemacht.« Susan Jago hielt eine rote Vinyl-Reisetasche auf den Knien. Sie spielte mit den Bügeln, während sie sprach. »Seit Jahren ist Chris immer wieder mal abgetaucht. Er wird komisch, und dann verschwindet er von einem Tag auf den anderen, um nach einiger Zeit wieder aufzutauchen, als ob nichts gewesen wäre.«
Es gab eine ganze Reihe Möglichkeiten, vom Westminster Hospital zur Euston Station zu fahren, und Hendricks hatte im Geiste eine Münze geworfen. Er fuhr die Victoria Street entlang zum Parliament Square und von dort aus weiter nach Norden Richtung Whitehall.
»Hat er irgendwelche Medikamente genommen?«
»Mensch, der hat ständig was eingeschmissen. Alles Mögliche …«
»Ist wohl Stammkunde in der Apotheke?«
Sie lachte und ließ den Kopf zurücksinken. »Christopher ist ein absoluter Chaot. War er schon immer.«
Hendricks lenkte den Ford Focus geschickt durch den Verkehr, ließ sich allerdings von den nassen Straßen nicht beirren und behielt sein Tempo bei. Er hatte sich bereits einmal entschuldigt, als er bei Rot über eine Ampel fuhr und seine Beifahrerin nervös nach Luft geschnappt hatte.
Jetzt drückte er auf die Tube, um noch an einem Bus vorbeizukommen, der gerade den Blinker setzte. Wieder schnappte sie nach Luft.
»Tut mir Leid …«
»Ist schon okay.«
»Ich versuche nur, Sie schneller hinzubringen. Wenn Sie den Nächsten verpassen, müssen Sie warten.«
»Wie gesagt, mich erwartet niemand. Die Kinder sind bei einer Freundin.«
Trotz des Wetters herrschte auf dem Parliament Square dichtes Gedränge, und die Autos steckten fest. Hendricks war definitiv in die Touristenfalle getappt.
»Hatte er nie einen Job?«
»Er hatte eine ganze Menge Jobs, einer beschissener als der andere. Und nicht mal die konnte er halten. Entweder es gab Ärger auf der Arbeit, oder er tauchte aus einer Laune heraus nicht mehr auf. Dann war er wieder mal eine Weile auf Wanderschaft.« Sie zuckte die Achseln und schaute zum Fenster hinaus auf die regenschirmbewehrte Menschenmenge vor der Westminster Abbey.
»Gab es irgendeinen Anlass für Chris’ Krankheit? Sie haben gesagt, er wär seit Ewigkeiten so gewesen …«
»Ich würd es nicht Krankheit nennen. Er ist einfach depressiv, verstehen Sie?«
»Das ist eine Krankheit.«
»Wenn Sie es so sehen.«
»Ich dachte nur, ob es vielleicht irgendein Ereignis gab, das ihn aus der Bahn geworfen hat? Eine Beziehung, die in die Brüche ging. Ein Todesfall in der Familie
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