Tom Thorne 05 - In der Stunde des Todes
»blond«.
In den knapp drei Wochen hatte Thorne genug gesehen, um zu verstehen, wovon Spike sprach. Die Gemeinschaft der Obdachlosen zerfiel wie jede andere in diverse Gruppen und Grüppchen und hatte ihre gewachsenen Hierarchien. Im Großen und Ganzen ließen sich drei Hauptgruppen ausmachen: Drogensüchtige, Säufer und Leute mit psychischen Problemen. Wie nicht anders zu erwarten, gab es den einen oder anderen, der bei allen drei Gruppen einen Antrag auf Mitgliedschaft stellen konnte, aber in der Regel blieben sie getrennt. Und da die Leute mit den psychischen Problemen unter sich blieben, flammten die Feindseligkeiten hauptsächlich zwischen den Säufern und den Drogensüchtigen auf.
»Schon verrückt«, sagte Thorne. »Die Alkoholiker können die Junkies nicht ausstehen, die Junkies hassen die Alkoholiker, so gut wie niemand mag die Durchgeknallten …«
»Und alle zusammen sind wir stinksauer auf die Asylanten!«, witzelte Spike und schnippte dabei mit den Fingern wie ein junger Schwarzer. »Eine richtig altmodische Mischung. Ich find sie super. Da sind die Immigranten, die Typen, die mal in der Armee waren, und die, die im Knast waren. Du findest die verschiedensten Typen auf der Straße, Kumpel. Was du dir nur vorstellen kannst.«
Thorne widersprach nicht.
Sie waren an der Oxford Street angekommen, wo sie eine Lücke im Verkehr abwarteten, um die Straße zu überqueren. »Du hast natürlich Recht, es ist wirklich verrückt, dass wir nicht miteinander auskommen.« Spike wirbelte herum und deutete nach hinten in Richtung des Säufers. »Menschenskinder, du hast doch gesehen, wie dieser Suffkopf drauf war. Der ist nichts als ein verrückter, stinkender Haufen Scheiße. Nichts für ungut, Kumpel …«
»Hä?«
»Na ja, abgesehen von der Alterskiste dürften wir beide normalerweise nicht klarkommen. Ein Junkie und ein Säufer. Du bist doch ein Alki, oder?«
So lange er zurückdenken konnte, wurde Thorne verdächtigt, weitaus mehr zu trinken, als es tatsächlich der Fall war. Die Wahrheit war, er mochte teuren Wein und billiges Bier, aber auch wenn er und Phil Hendricks vor der Glotze einiges wegputzten, wenn sie sich ein Fußballspiel ansahen, hatte er kein Problem mit Alkohol … nicht wirklich.
Klar, in letzter Zeit hatte er aus den bekannten Gründen etwas mehr getrunken, und er trank auf der Straße. Aber doch nur, weil seine Rolle als Undercoveragent das verlangte. Er war sogar dazu übergegangen, pissdünnes Lager zu kaufen und es in leere Dosen von Tennent’s Extra und Special Brew umzufüllen. Kein Alkoholiker mit einem Funken Selbstachtung möchte morgens mit einer Dose Carling oder der Sainsbury’s-Brühe erwischt werden.
»Ist ja nicht so, dass du immer trinkst«, sagte Spike. »Aber du stinkst danach.«
Thorne fuhr sich mit der Hand durch die Haare und streifte das Wasser ab. Mit einem Zwinkern erklärte er Spike: »Ab und zu trink ich eben gern einen …«
Sie liefen am Wheatsheaf und dem Black Horse vorbei. Am Marquess of Granby in der Rathbone Road. Einem von Thornes Lieblingspubs – und einst das Lieblingspub von Dylan Thomas. Der walisische Dichter war hier Stammgast gewesen und hatte sich einen Spaß draus gemacht, die Gardisten zu provozieren, die kamen, um die Homosexuellen zu verspotten oder zu vernaschen.
Unvermittelt bog Spike nach links ab, und innerhalb von ein, zwei Minuten befanden sie sich in einer der ruhigen Seitenstraßen hinter dem Middlesex Hospital, wo Paddy Hayes vor einer Woche gestorben war.
»Ist wie im Knast«, sagte Thorne. »Da kommen sie auch nicht miteinander aus. Jeder bildet sich ein, er sei besser als der andere. Die Verbrecher mit dem weißen Kragen, die halbseidenen Geschäftsleute und die Trickbetrüger sind der Meinung, man solle sie getrennt von den »richtigen« Verbrechern unterbringen. Die echten Diebe halten sich für was Besseres als die Mörder. Jeder verachtet die Triebtäter …«
Spike trat einen Schritt vor und wandte sich um, redete halb im Rückwärtsgang mit Thorne und schien plötzlich wie ein aufgeregter kleiner Junge. »»Du warst also im Knast?«
Rückblickend war es nicht gerade das Schlaueste, ihm diese Lüge aufzutischen, aber Spikes Mutmaßungen würden ihm auch nicht schaden. Er beschloss, nichts darauf zu antworten.
»Hör mal, es tut mir Leid«, sagte Spike. »Ich wollte nicht neugierig sein. Du brauchst nichts zu sagen, wenn du nicht willst.«
Er blieb abrupt stehen und wartete kurz, bevor er in eine schmale Gasse
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