Tom Thorne 05 - In der Stunde des Todes
Patsy-Cline-Song. Möglichst leise, damit ihn, wer immer draußen war, nicht hörte. Er hatte keine Ahnung, wie er plötzlich auf diese Melodie gekommen war, aber sie passte irgendwie. Auf alle Fälle hatte er nach Mitternacht genug Bewegung gehabt. Manchmal kam es ihm vor, als würden Obdachlose eigentlich nur rumsitzen und rumlaufen, wenn sie nicht gerade schliefen. Eigentlich war das doch bei allen so, oder? Saß nicht jeder hinter einem Schreibtisch, einer Kasse oder in einer Passage? Liefen nicht alle ins Büro oder ins Pub oder wo immer sie bekamen, was sie brauchten, um die nächsten Stunden hinter sich zu bringen? Irgendwie saß jeder oder lief herum und sah zu, dass er über die Runden kam …
Es klopfte erneut, diesmal lauter. Jemand rief durch die Tür.
Er blieb noch ein paar Sekunden stehen, ließ das warme Wasser über sein Gesicht laufen und dachte darüber nach, was er gestern Abend zu Holland gesagt hatte. Vielleicht war das, was wie ein Muster aussah, purer Zufall. Wie wahrscheinlich war es, dass ein Mörder seine Opfer sorgfältig aussuchte, wenn diese doch nur – und daran glaubte Thorne noch immer – vom eigentlichen Motiv ablenken sollten? Natürlich konnten beide Theorien zutreffen. Selbst wenn die späteren Opfer nur als Ablenkung dienten, wäre es nicht allzu aufwendig, sie nach diesen Kriterien auszuwählen. Die Junkies und die Säufer waren leicht zu erkennen, da sie gerne mit ihresgleichen rumhingen. Und Typen wie Radio Bob konnte man kaum verfehlen.
Der Mörder hatte leichtes Spiel. Er musste nur abwarten und den Menschen auflauern, denen der Rest der Welt aus dem Weg ging.
Brendan Maxwell kam in die Umkleidekabine, als Thorne wieder in seine schmutzigen Klamotten schlüpfte.
»Warum ziehst du keine sauberen Klamotten an?«, fragte er.
Thorne schob eine Plastiktüte mit Seife und Shampoo in seinen Spind, drehte sich zum Spiegel und betrachtete sich. »An denen ist nichts auszusetzen …«
»Alle anderen benutzen die Waschmaschinen hier …«
»Die Klamotten sind okay.«
Maxwell trat zur Seite, sodass Thorne ihn im Spiegel sehen konnte. Er schob die Unterlippe vor, zuckte die Achseln und warf sich in Pose. »Redest du mit mir? Redest du mit mir?«
Thorne lachte und trat einen Schritt nach rechts, um das Spiegelbild des Iren zu verdecken. »Verpiss dich.«
Obwohl er öfters im London Lift gewesen war, hatte er Brendan Maxwell länger als eine Woche nicht gesehen. Seit Radio Bobs Beerdigung nicht mehr.
»Wie war’s?«, fragte Thorne.
»Übler, als du es dir vorstellen kannst. Wir haben ein paar von Bobs Kumpeln im Minivan mit raufgenommen, weißt du. Ein paar von den älteren Typen, mit denen er gern rumhing.« Er begann wild zu gestikulieren. »Also, wir und sie sitzen alle rechts und seine Exfrau und das Kind und ein paar Cousinen und Cousins oder weiß der Geier links.«
Wahrscheinlich waren mehr Leute anwesend als bei der letzten Beerdigung, bei der ich war, dachte Thorne.
»Absolut verrückt«, sagte Maxwell. »Als ob sich da die zwei Leben des armen Teufels links und rechts in der Kirche versammelt hätten. Und du brauchst nicht lange zu raten, wer sich besser amüsierte. Ein oder zwei hatten eine Flasche einstecken, und dann legten sie los, was für eine Nummer Bob war und so weiter. Dass sie in der Kirche die passenden Lieder bräuchten, wie »Radio Ga-Ga‹, und wie saukomisch Bob das gefunden hätte.«
Er lächelte, und Thorne tat es ihm nach.
»Wäre tatsächlich saukomisch gewesen, oder?«
Für die Beerdigung seines Vaters hatte Thorne nach Musik gesucht, die ihm etwas bedeutet hatte. Aber ihm war kein Song und kein Musikstück eingefallen. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, seinen Vater nach seinen Wünschen zu fragen. Schließlich hatte man sich auf eine Trauermusik geeinigt, die sein Vater verabscheut hätte.
Maxwell lehnte sich gegen einen Spind. »Gab natürlich nichts zu lachen. Gar nichts war da lustig. Bobs Exfrau saß die ganze Zeit über da, als sei das alles die reinste Zeitverschwendung und halte sie nur von etwas Dringendem wie der nächsten Maniküre ab. Und die Tochter heulte ununterbrochen. Die ganze Beerdigung durch.« Er schlug mit der Ferse gegen die Metalltür hinter ihm. »Paddy Hayes wird übermorgen beerdigt. Meinen schwarzen Anzug kann ich zurzeit gut brauchen.«
»Wir tun unser Bestes, Bren.«
Maxwell hob die Augenbrauen, als wolle er nachfragen, was genau das Beste sei, das Thorne und jeder andere tue.
Thorne war sich darüber
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