Tom Thorne 05 - In der Stunde des Todes
Spike gebrüllt hatte, war klar, dass er noch immer glaubte, Thorne habe im Gefängnis gesessen.
Thorne dachte an den Fall, an dem er kurz vor dem Tod seines Vaters gearbeitet hatte. Den Fall, der vielleicht der Grund war, warum sein Vater starb. Er dachte an die Linie, die er selbst gezogen hatte und die er dann, ohne mit der Wimper zu zucken, übertreten hatte. Als ginge er in ein anderes Zimmer.
E xstraftäter traf es ziemlich genau.
Er blieb vor der Kirche stehen und sah hinauf zu der schwarz überzogenen Statue Gladstones, auf die des starrsinnigen Bombers Harris …
Etwas nahm Gestalt an.
Es standen noch andere Statuen vor der Kirche. Er brauchte nicht zu wissen, wem sie gewidmet waren. Selbst von hinten konnte Thorne aus ihrer Haltung schließen, was diese Männer waren. Er machte kehrt und ging zurück zum Eingang der Kirche, und es fiel ihm wieder ein, bevor er die drei Buchstaben sah, die nebeneinander auf dem hellblauen Kreuz unter dem goldenen Adler standen. St. Clement Danes war die Kirche der RAF, der Royal Air Force …
Etwas, das bislang verschwommen gewesen war, gewann plötzlich an Schärfe.
Das Museum fiel ihm ein, an dem er heute mit Russell Brigstocke vorbeigelaufen war. Und etwas, das Spike gesagt hatte, als sie über die unterschiedliche Herkunft der Obdachlosen sprachen.
»Eine richtig altmodische Mischung. Ich find sie super. Da sind die Immigranten …«
Und dann war Thorne klar, welcher Typ sich die Blutgruppe eintätowieren ließ.
War schon komisch, dachte er, die Sache mit alten Freunden.
Er saß in seiner Wohnung und dachte darüber nach, was für merkwürdige Dinge passierten, wenn man sie wieder traf. Und oft waren auch die Umstände seltsam, unter denen man sie wieder traf. Manchmal lief man jemandem aus seiner Vergangenheit einfach so über den Weg, zum Beispiel in der U-Bahn, oder man saß eines Abends nebeneinander in einer Bar. Oder ein alter Freund rief aus heiterem Himmel an.
Oder es begann wie in diesem Fall: mit einem Brief …
Es war schon verrückt, wie man Leute, die einem nie wirklich wichtig waren, ein paar Jahre später ganz in Ordnung fand und gut mit ihnen auskam. Während andere – die Typen, von denen man glaubte, sie wären Freunde fürs Leben, denen man nach ein paar Bier die blödesten Geschichten erzählte und sein Herz ausschüttete, von denen man glaubte, man sei auf einer Wellenlänge – sich am Ende als die entpuppten, mit denen man die meisten Probleme hatte. Und die Scheiße war natürlich, dass man anfangs bei niemandem sagen konnte, wie es sich verhalten würde.
Die Zeit heilte manche Wunden, logisch, aber andere eiterten ein Leben lang.
Wahrscheinlich gab es immer einen guten Grund, wenn der Kontakt zwischen Leuten einschlief. Manchmal kostete es Kraft, eine Freundschaft am Leben zu erhalten. Weil die Geographie oder weiß der Teufel was dagegen sprach. Doch wenn einem die Freundschaft wirklich etwas bedeutete, tat man etwas dafür. So einfach war das. Wenn nicht, dann ließ man sie einschlafen. Und wahrscheinlich dachte der andere genauso und ließ sie genau im selben Moment einschlafen.
Nahm einer der Beteiligten später die Mühe auf sich, wieder in Kontakt zu treten, war die Wahrscheinlichkeit nicht gering, dass er etwas von einem wollte. Und in diesem Fall war es ganz bestimmt so. So sicher wie das Amen in der Kirche. Aber nach zehn Jahren oder länger will man etwas anderes, oder? Man möchte ein ruhiges Leben, und dafür legt man sich ins Zeug. Man ist bereit – nein, mehr als nur bereit –, für sich zu kämpfen. Man will behalten, was man sich so hart erarbeitet hat.
Damals waren sie alle aufeinander angewiesen. Niemand musste sich dafür schämen. Aber das Leben geht weiter, und die Menschen lernen dazu. Das kapiert selbst der Blödeste. Wenn man keine echten Feinde mehr hat, ist man auch nicht so dringend auf Freunde angewiesen.
1991
Auf die vier Gefesselten sind keine Waffen mehr gerichtet, und obwohl die Männer, die ihre Handgelenke und danach die Beine gefesselt hatten, keine fünfzehn Meter entfernt stehen, wagen es die vier, zumindest kurz die Blicke schweifen zu lassen. Zunächst über den Boden. Dann auf den Mann, der am nächsten sitzt. Die Augen treten nicht mehr hervor, der Blick ist nicht mehr starr, als sähen sie sich mit einem Gewehrlauf konfrontiert oder einer Klinge.
Der Sand hat inzwischen die Farbe von Schlamm angenommen, und ihre olivfarbenen T-Shirts sind vom Regen schwarz und kleben
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