Tom Thorne 05 - In der Stunde des Todes
strahlte, als ein hoch gewachsener Mann, an die zwei Meter groß, mit seiner Schüssel zu Spike und Thorne schlenderte, die ihre Mahlzeit gerade beendeten. Thorne stellte seine leere Schüssel auf das Fensterbrett hinter ihm und sah Spike dabei zu, wie er seine auf die Straße warf. Thorne musste gegen das Bedürfnis ankämpfen, aufzustehen und sie aufzuheben.
Der lange Kerl und Spike begrüßten einander herzlich. »Das ist Holy Joe«, sagte Spike.
Der Mann sah auf Thorne hinunter und nickte kurz. Er trug eine Queen’s-Park-Rangers-Zipfelmütze und Turnschuhe. Unter einer von oben bis unten zugeknöpften Arbeiterjacke versteckte sich etwas, das wie eine lange braune Kutte aussah.
»Wer war’s denn diesmal?«, fragte Spike.
»Klosterschwestern«, antwortete der Mann. »Die sind echt am schlimmsten.«
Spike erklärte, dass Joe hauptsächlich von der Barmherzigkeit diverser kirchlicher Organisationen lebte: der Jesus Army; der Heilsarmee; der Quäker; des Young Jewish Volunteer Corps; der Schwestern und Brüder von so gut wie jedem. Ein paar Wochen am Stück Logis und Verpflegung für den Preis einer täglichen Bibelstunde oder Andacht.
»Ich hab hundertsieben Kreuze in einer Plastiktüte«, sagte Joe. Er schlürfte seine Suppe. »Hölzerne und welche aus Plastik. Und dazu ein Dutzend Bibeln …«
»Dann hast du garantiert Paddy Hayes gekannt«, sagte Thorne. »Spikes Kumpel. Der umgebracht worden ist. Der war doch so ein Betbruder.«
Joe trat einen Schritt zurück und kratzte mit der Sohle seines Turnschuhs am Randstein, als wolle er Hundescheiße wegschaben. »Schon, aber Paddy war eher ein Leichtgewicht.«
Thorne war noch immer überzeugt, dass Jago und das erste Opfer die Antwort für die Morde insgesamt liefern würden. Aber die Kriterien, nach denen der Mörder die anschließenden Opfer auswählte, wenn es nicht zufällig war, könnten der Polizei am ehesten helfen, ihn zu fassen. Für die These, dass er seine Opfer aus den verschiedenen Gruppen aussuchte, sprach einiges. Doch plötzlich fragte Thorne sich, ob es nicht vielleicht eine Verbindung zur Kirche gab.
»Den Kerl kannst du alles fragen«, sagte Spike. »Mit dem, was der über Religion weiß, kann er in jedem Quiz auftreten. Dein Spezialgebiet, oder, Joe?«
Hatte Robert Asker nicht geglaubt, er könne über sein Radio mit Gott sprechen? Vielleicht war er auf ein oder zwei religiösen Veranstaltungen gewesen. Thorne nahm sich vor, Caroline bei passender Gelegenheit danach zu fragen.
Aufgeregt trat Spike von einem Fuß auf den anderen. »Los, mach schon, frag ihn was. Er kennt die Bibel in- und auswendig.«
Joe nickte ernst. »Und den Talmud. Und den Koran. Ich nehm’s nicht so genau.«
»Mir fällt nichts ein«, sagte Thorne.
»Frag ihn nach den Büchern. Er soll sie der Reihe nach aufsagen …«
»Zu einfach«, widersprach Joe.
Thorne musste an seinen Vater denken, der dieses Spiel geliebt hätte. Der alte Herr konnte nicht einschlafen, bevor er nicht die richtige Antwort herausgefunden und irgendwo niedergeschrieben hatte. In den letzten Jahren hatte er sich angewöhnt, Thorne in aller Herrgottsfrühe anzurufen und ihn zu löchern. Er musste listenweise bizarre Fragen beantworten.
»Frag ihn«, forderte Spike.
Nenn mir ein Dutzend Raubkatzen … Die drei schnellsten Ballspiele der Welt … Sämtliche Könige und Königin nen von England. Los, ich sag dir die ersten fünf …
»Los, frag, was du willst.«
»Okay«, gab Thorne sich geschlagen. Er deutete auf die Schüssel in Joes Händen. »Hätte Jesus das in Suppe verwandeln können?«
Eine Drehtür verursachte einen Luftzug hinter ihnen, und ein Mann eilte aus dem B&A-Tobacco-Gebäude über die Straße. Er trug einen Mantel, der maßgeschneidert aussah, und einen Metallkoffer. Mit seiner freien Hand versuchte er, das im Wind flatternde Ende eines roten Schals zurück unter den Mantel zu stecken.
Holy Joe drehte sich zu ihm um und rief ihm fröhlich hinterher: »Hey, Kumpel, haste Zigaretten für mich?«
Ohne aufzublicken, zischte der Mann: »Verpiss dich.«
Sie liefen Richtung Osten zur Fleet Street, vorbei an der verlassenen U-Bahn-Station in der Aldwych Street, in deren verbarrikadiertem Eingang sich eine Kabine für Passbilder befand. Thorne gab Spike und Caroline einen Abriss der Geschichte dieser Station. Wie diese U-Bahn-Station, die ursprünglich Strand hieß, im Verlauf ihrer hundertjährigen Existenz immer wieder verwaiste; wie in An American Werewolf in London
Weitere Kostenlose Bücher