Tom Thorne 05 - In der Stunde des Todes
von den Versprechungen, die eine oder andere Lust zu befriedigen. Als wäre er gezwungen, den ganzen Tag die Zähne zusammenzubeißen. Zu Hause dann, das war ihm klar, würde er Stunden vor dem Fernseher sitzen und sich durch die Kanäle zappen oder den Joystick seiner Playstation bearbeiten. Schlafen konnte er erst, wenn sich die Knoten gelöst hatten.
Er beschwerte sich nicht. Man machte eben das, was der Job erforderte. Trotzdem war er froh, dass er herausgefunden hatte, was an ihm nagte. Er nahm sich vor, es aufzuschreiben, wenn er zurück war. Diese Sache mit der Gier …
Passend war es zumindest. Wenn man sich überlegte, warum er eigentlich hier war. Ohne die Gier dieses einen Idioten hätte das alles schließlich nicht sein müssen. Sie wären alle noch am Leben. Der Fahrer, der Richtschütze und …
Er wartete, bis der Mann, der direkt auf ihn zukam, zur Seite trat, bevor er die Liste aus seiner Tasche zog und die nächste Adresse heraussuchte.
Bevor es dunkel wurde, war er längst weg. Er hatte früh angefangen, um sicherzugehen. Er war früher schon mal spätabends im West End unterwegs gewesen, und das brauchte er nicht noch mal, wenn es nicht unbedingt nötig war. Da gab’s ’ne Menge Schlägereien, und der Rinnstein kam gerade recht, falls man sich hinlegen wollte. Wenn in jeder Gasse die Pisse von den Mauern rann und man in jeder dunklen Ecke einen dieser Idioten sah, die sich übergaben oder ihren Rausch ausschliefen.
An einem Samstagabend ließ sich nicht sagen, wer obdachlos war und wer nicht.
* * *
Die junge blonde Frau war noch immer nicht zufrieden mit dem Hintergrund. Sie winkte, bat ihren Freund, eine Winzigkeit weiter nach rechts zu rücken …
An Fotosujets herrschte in London kein Mangel. Die Gasometer in King’s Cross waren perfekt für den künstlerisch Interessierten, und die Sozialbauten von Tower Hamlets und Tottenham eigneten sich für eine bestimmte Art von Dokumentationsfotografie. Und die Touristen hatten natürlich die Qual der Wahl. Die Amerikaner und Japaner auf Europareise, die Landeier aus dem Norden auf ihrem Wochenendtrip – sie alle konnten überall aufs Geratewohl abdrücken. Doch nur wenige Sehenswürdigkeiten waren so beliebt wie der Eros. Am Piccadilly Circus knipsten die Touristen wie verrückt. Sie hielten die Statue auf dem als Denkmal errichteten Brunnen für den Liebesgott und lagen dabei ziemlich falsch, denn die Statue stellte den Engel der christlichen Nächstenliebe dar. Eine nicht eben geringe Anzahl zu seinen Füßen herumlungernder Menschen gehörte zu den Abgestürzten der Stadt: Ausreißer, Junkies und Stricher, die schon lange etwas christliche Nächstenliebe bräuchten.
»Nein … weiter … beweg dich …«
Die Blondine sprach mit einem schweren kanadischen Akzent und hörte nicht auf, hinter ihrer Kamera zu fuchteln, um die heruntergekommenen Penner nicht aufs Bild zu bekommen. Ihr Freund, der von den drei Typen auf den Stufen hinter ihm nichts mitbekam, wurde allmählich ungeduldig.
Währenddessen fielen Spike und Caroline über ihre fettige Pizza her, und Thorne beobachtete gebannt, was auf der anderen Seite des Platzes geschah. Ein dicker Kerl in einer ihm unbekannten blauen Uniform beugte sich vorm Burger King zu einem Bettler hinunter und redete auf ihn ein. Nach einigem Kopfschütteln packte der am Boden kauernde Bettler seine Decke und entfernte sich.
»Was ist denn das für einer?« Thorne deutete mit einem Kopfnicken auf den uniformierten Typen.
Spike stand auf und schaute über den Verkehr hinweg hinüber. »PCP«, erklärte er.
»Piccadilly Circus Partnership«. Caroline schob sich das letzte Stück Pizza in den Mund und wischte sich die Finger an der Jeans ab. »Einige Ladenbesitzer und Geschäftsleute aus der Gegend engagieren die, damit sie die Straßen sauber halten. Hab gehört, die stehen mit der Polizei in Funkkontakt und im Trocadero gäb’s ein riesiges Kontrollzentrum, voll gestopft mit Bildschirmen, auf denen die Aufnahmen der Videoüberwachungskameras zusammenlaufen.« Sie deutete auf den gigantischen Medienkomplex in der Coventry Street. » Angeblich halten sie Ausschau nach allem Möglichen. Rissen im Straßenpflaster, verstopften Leitungen, weiß der Geier …«
Thorne sah dem Mann in der blauen Uniform zu, wie er langsam über den Zebrastreifen Richtung Virgin Records ging. Im West End waren eine Menge dieser Ersatzbullen unterwegs, die sich für Laien nur durch die bunten, fluoreszierenden Streifen über
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