Tom Thorne 05 - In der Stunde des Todes
die Straße in den Hyde Park und setzte sich auf eine Bank in der Nähe eines der Cafés an der Speaker’s Corner. Normalerweise wäre diese Ecke am nordöstlichen Ende des Parks um diese Jahreszeit ein hübsches Plätzchen. Auch wenn der Grasstreifen entlang des Reitwegs eine einzige Schlammpfütze war, überall standen die Herbstzeitlosen in voller Blüte. Die eingezäunten Grasflächen waren noch immer grün, und trotz der Plastiktaschen, die an so manchem Zweig baumelten, boten die Bäume weiter oben wesentlich mehr Farbe – Grün und Bronze und das Sonnengelb der Eschen.
Vor vierundzwanzig Stunden hatte hier wie jeden Sonntagmorgen das pralle Rednerleben getobt. Die politischen Köpfe, die Fanatiker und die Durchgeknallten hatten sich ins Zeug gelegt. Sie hatten auf ihren Seifenkisten gestanden und etwas von Freiheit und Aufklärung gebrüllt, und von Aliens, die ihnen Botschaften durch den Toaster schickten. Jeder von ihnen erwies damit der Tradition der freien Rede die Ehre, die vor hundertfünfundzwanzig Jahren durch ein Parlamentsdekret für diesen Ort gewährt wurde. Nachdem er diesen grauen Montag zur Hälfte hinter sich hatte, völlig durchgefroren war und die ersten Vorwehen von Kopfschmerzen spürte, fiel es Thorne wesentlich leichter, sich die Galgen von Tyburn vorzustellen, die sich ein paar hundert Jahre zuvor an exakt dieser Stelle befunden hatten. Es war weniger anstrengend, sich das Knarzen einer im Wind baumelnden Leiche auszumalen – einmal hingen am Dreiergalgen sogar vierundzwanzig gleichzeitig –, und das blutrünstige, krakeelende Publikum, als die Reden und Diskussionen.
Holland ließ sich auf der Bank neben ihm nieder und deutete mit einem Kopfnicken zur Speaker’s Corner. In einem weit gezogenen Halbkreis waren Eichen gepflanzt, die sich flammend rot vor dem gebrochenen Weiß der Gebäude in der Park Lane abhoben. »Was würden Sie sich von der Seele reden?«
»Hä?«
»Wenn Sie ein Publikum hätten, vor dem Sie über alles reden könnten …«
Das war einer der Hauptgründe, warum Thorne so gerne mit Holland zusammen war und warum er sich mit jedem angelegt hatte, der, und sei es noch so kurz, dem vormaligen DC in die Parade gefahren war. Holland hatte die Fähigkeit, trübe Stimmungen durch eine anscheinend unbekümmerte Bemerkung, eine naive Frage aufzuhellen. Gelegentlich, wenn er sich besonders beschissen fühlte, schrieb Thorne das Hollands Mangel an Einfühlung zu, häufiger jedoch dem exakten Gegenteil davon.
»Keine Ahnung«, sagte Thorne. »Aber so, wie’s läuft, glaub ich, lande ich bei der Toaster-und-Alien-Truppe.«
»Wie bitte?«
Thorne schüttelte den Kopf. Egal. »Und Sie?«
»Womit soll ich anfangen? Ich würde versuchen, meine Zuhörer davon zu überzeugen, dass es Einrichtungen zur Unterbringung sämtlicher Kinder zwischen einem und sechzehn Jahren geben sollte. Ich würde sie auffordern, meine Kampagne für die Ausdehnung des Elternurlaubs bei der Polizei auf, sagen wir mal, fünf Jahre zuzustimmen. Inklusive eines bestimmten Quantums Freibier und Urlaub in der Karibik …«
»Ist es so übel zu Hause?«
»Wie viel Platz ist in so einem Eingang eigentlich?«
Thorne nötigte sich ein Lächeln ab und lehnte sich auf seiner Bank zurück. Er beobachtete ein Eichkätzchenpärchen, das um einen Abfalleimer jagte. Eine fette Elster hüpfte lässig zur Seite, als eines der Tiere auf sie zurannte. Holland zog die Handschuhe aus, um etwas aus seiner Aktentasche zu holen. »War nur ein Scherz«, sagte er.
Es handelte sich um ein Magazin. Edel, mit einem grimmig dreinblickenden Soldaten auf dem Cover, der von Sand umgeben war. Sandsäcke zu seinen Füßen und schwarze Sandwolken in seinem Rücken. Darüber stand in riesigen roten Buchstaben »Glorious«.
»Das ist die Regimentszeitung«, erklärte Holland. »Es ist ihr Spitzname: die › Glory Boys‹ oder das › Glorious Twelfth‹. Hat mir eine Frau aus ihrem Hauptquartier geschickt. Sie ist ihr Assistant Adjutant …«
»Sie hat es Ihnen geschickt?«
»Kam wie aus heiterem Himmel. Es ist die Ausgabe vom Frühling 1991.«
Thorne warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu und blätterte das Magazin durch.
»Sie wollte uns sicher nur helfen.« Holland bemühte sich, cool zu bleiben, lief aber puterrot an. »Allerdings hat sie, glaube ich, einen Narren an mir gefressen … »
»Ist doch immer dasselbe«, sagte Thorne. »Die besten Polizeibeamten arbeiten sich vierundzwanzig Stunden am Tag den Arsch ab,
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