Tom Thorne 06 - Die Geliebte des Mörders
ist spät«, sagte Hendricks. »Ich hab mir schon Sorgen gemacht. Beinah hätte ich die Polizei gerufen.«
Thorne ging um das Bett herum zur Küche. »Ich hab gewusst, ich hätte den Schlüssel zurückverlangen sollen.«
»Du klingst, als würdest du jeden Moment anfangen ›I Will Survive‹ zu singen. Vielleicht hättest du auch noch das blöde Schloss auswechseln sollen.«
»Möchtest du eine Tasse Tee?«
Hendricks hatte im letzten Jahr ein paar Wochen bei Thorne gewohnt, und Thorne hatte sich nie den Reserveschlüssel zurückgeben lassen, nachdem Hendricks in seine eigene Wohnung zurückgezogen war. Er hatte seither ein paar Mal Gebrauch davon gemacht, aber Thorne war sich ziemlich sicher, dass Hendricks heute Abend nicht gekommen war, um die Katze zu füttern.
»Wie lange willst du bleiben?«
Hendricks wandte sich zur Küche und sprach lauter. »Das ist eine Ausnahme«, erklärte er. »Ich wollte nicht hier schlafen, aber als es so spät wurde, hab ich gedacht, Scheiß drauf, und das Bett ausgezogen.«
»Kein Problem.« Thorne kam zurück und trat an die Stereoanlage. Er legte eine CD von Iris DeMent ein, eine Sängerin und Songschreiberin aus Arkansas, die er zum ersten Mal auf Radio 2 in Bob Harris Countrysendung gehört hatte. Ihre Lieder waren Mountain-Songs, einfach und ehrlich, wie gemacht für die späte Stunde. Thorne wartete, bis sie die ersten Noten auf ihrer Akustikgitarre gespielt hatte, regulierte die Lautstärke und ging zurück in die Küche, um seinen Tee zu holen.
»Ich hab mich mit Brendan nicht wegen ›nichts‹ gestritten«, sagte Hendricks.
Thorne setzte sich vorsichtig und zog das Knie an. »Das hab ich auch nie geglaubt.«
»Neulich, als ich gesagt hab, ich wüsste nicht mehr genau, wegen was wir uns eigentlich gestritten haben und dass es nicht wichtig war, weißt du noch?«
»Ich kann mich erinnern, du wolltest nicht so recht mit der Sprache herausrücken …«
»Wir haben uns über Kinder gestritten.«
»Was, hast du’s endlich übers Herz gebracht und ihm gesagt, dass du keine kriegen kannst?«
Hendricks grinste, aber das war eher eine Pflichtübung. »Ich will welche haben. Das ist der Punkt. Mir ist klar, das ist ein absoluter Albtraum, und wir hätten sowieso nie die geringste Chance, aber ich wollte mit ihm darüber reden, ein Kind zu adoptieren. Brendan wollte nicht. Er findet mich egoistisch, und ich hätte ihm das von Anfang an sagen sollen. Als ob ich das damals gewusst hätte.«
Die Ausziehcouch quietschte, als Hendricks sich anders hinsetzte. Zur Gitarre hatte sich jetzt noch ein Klavier gesellt, und zwischen den beiden Instrumenten war eine Stimme mit Ozark-Akzent zu hören.
»Und seit wann weißt du es?«, fragte Thorne.
Hendricks ließ den Kopf nach hinten sinken und sprach zur Decke. »Ich war doch letztes Jahr auf dieser Konferenz in Seattle, weißt du noch?«
»Um Ostern rum, oder? Du hast erzählt, wie kalt es war.«
»An einem Tag wurden fantastische neue Kühlzellen für die Leichenhalle vorgestellt. Sie hatten da auch diese Schauhäuser. Extra für Kinderleichen, verstehst du?« Hendricks räusperte sich. »Für jedes Alter, von Totgeburten bis hin zu jungen Teenagern, die bei Bandenkriegen erschossen wurden. Wir bekommen die jetzt auch, aber damals hatte ich noch nie so was gesehen. Im Grunde geht es dabei darum, das Trauma für die Eltern zu lindern, die Sache etwas persönlicher zu machen und nicht ganz so … schockierend. Also bahren sie den Toten auf einem gekühlten Bett auf. Das ganze Schauhaus ist wie ein Kinderzimmer aufgemacht, ja? Es gibt Teddys und Puppen und Spielzeug für die ganz Kleinen. Und wenn man will, auch Musik. Es soll so aussehen, als schliefe das tote Kind. Friedlich, wenigstens für die paar Minuten.
Da wird niemandem was vorgespielt, dass dir das klar ist. Nichts wirkt aufgesetzt und ist aus Plastik. Überhaupt nicht, auch wenn sich das jetzt vielleicht so anhört.
Sie führen uns also herum, ja? Eine richtige Führung. Ein paar von uns sind aus Großbritannien, einige aus Deutschland, Australien und so weiter, alle machen sich Notizen, stellen Fragen. ›Wie wird die Betttemperatur geregelt? Wie hoch belaufen sich die Kosten?« Alles Mögliche. Und ich starre nur auf das leere Bett. Auf die Rennautos auf dem Bettbezug, auf die Kuscheltiere, die Vorhänge … Und dann seh ich ein Kind im Bett liegen.
Einen Jungen …
Ich sehe sein Gesicht ganz deutlich. Jedes Detail. Wie lang seine Wimpern sind, die gefalteten
Weitere Kostenlose Bücher