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Tom Thorne 06 - Die Geliebte des Mörders

Titel: Tom Thorne 06 - Die Geliebte des Mörders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Billingham
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Hände auf dem Oberbett und die perfekten Halbmonde auf den Fingernägeln. Ich sehe jede Haarsträhne, und ich kann genau erkennen, wie viel Farbe sie ihm auf die Lippen gegeben haben. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich einen oder zwei Zentimeter vom Obduktionsschnitt sehen kann, rot, an der Brust oben, wo ein Knopf vom Pyjama aufgegangen ist. Das kann ich alles sehen, ich kann es erkennen, weil ich es, warum auch immer, mit den Augen eines Vaters sehe, nicht mit denen eines Pathologen.
    Ergibt das irgendeinen Scheißsinn?
    Das war es. Das hat auf einen Schlag alles verändert. Das Kind, das ich mir auf dem Bett vorstellte, war nicht anonym, es war keine Leiche, an der ich gearbeitet hatte. Es war mein Junge. Ich hatte diesen Pyjama mit den Raketen und Sternen drauf gekauft. Ich war es, der ihn beerdigen lassen musste. Plötzlich wusste ich, plötzlich konnte ich mir eingestehen, wie sehr ich mir ein Kind wünsche. Weil ich wusste, wie furchtbar ich mich fühlen würde, wenn ich es hergeben müsste
    Hendricks schniefte und schimpfte, aber von seinem Sessel aus konnte Thorne unmöglich erkennen, ob es sich um Tränen handelte. Dazu müsste er aufstehen, und ehrlich gesagt hatte er keine Ahnung, was dann von ihm erwartet wurde. Es war seltsam unangenehm, schwierig. Also blieb er, wo er war, und fühlte sich schlecht, weil er nicht wusste, wie er seinem Freund helfen konnte.
    Und sie hörten beide Iris DeMent zu, wie sie von Gott sang, der zwischen den dunklen Bergen wandelte, und von Jesus, der die Hand ausstreckte, um ihren Schmerz zu kühlen.
     
    Es war die größte Verbrecherjagd in der Geschichte der Metropolitan Police, die noch immer laufende Fahndung nach dem Serienvergewaltiger, der in annähernd hundert Wohnungen und Häuser in Südlondon eingebrochen und mehr als dreißig ältere Frauen sexuell belästigt hatte, von denen er mindestens vier vergewaltigte. Der Mann, den die Presse den »Night Stalker« getauft hatte, ging stets auf dieselbe Weise vor. Nachdem er sich Zugang verschafft hatte, schnitt er die Telefonleitung des Opfers durch und schaltete den Strom aus, bevor er sich auf den Weg ins Schlafzimmer machte.
    Gleichermaßen beunruhigt wie fasziniert hatte sie den Fall in den letzten Jahren genau verfolgt. Sie besaß Erfahrung mit abweichendem Verhalten, mit Menschen, die sich davon nicht lösen konnten, und mit solchen, die Opfer dieses Verhaltens geworden waren. Also hatte ihr Interesse durchaus einen beruflichen Hintergrund. Aber es war mehr, sie hatte darüber gelesen, was die Opfer dieses Mannes durchgemacht hatten, hatte sich die Tatrekonstruktionen im Fernsehen angesehen und ihre Angst gespürt, als ginge es um sie selbst. Die alten Frauen, viele bereits in den Achtzigern und noch älter, hatten alle diesen schrecklichen Moment beschrieben, als sie aufwachten und eine dunkle Gestalt am Fußende des Bettes stand. Und sie kam nicht umhin, sich zu fragen, wie sie sich in dieser Situation verhielt. Wie würde sie reagieren?
    Sie lebte natürlich in einem anderen Teil Londons und war nicht ganz so alt, noch nicht, wie dieser Mann seine Opfer anscheinend bevorzugte. Dennoch saß sie da und stellte sich diese Frage …
    »Ich sagte, nicht bewegen.«
    Den Arm ausgestreckt, erstarrte sie. »Ich wollte nur das Licht anmachen. Wenn es hell wäre, hätte ich nicht soviel Angst.«
    »Ich mag’s dunkel«, sagte er.
    Ihr Herz hämmerte so, dass der dünne Stoff ihres Nachthemds auf ihrer Brust tanzte. Dabei blieb sie überraschend ruhig. Behielt einen klaren Kopf. Ideen, Bilder, Worte jagten einander – Vergewaltigung, Schrei, Waffe, Schmerz –, aber sie konnte sich noch immer konzentrieren und klar denken.
    So musste sie ihn behandeln. Einen Zugang zu ihm finden. Seine Sympathie wecken.
    »Es tut mir leid, wenn Sie Angst haben«, sagte er. »Da kann ich nichts machen.«
    »Seien Sie nicht albern, natürlich können Sie das.«
    »Nein …«
    »Sie brauchen nur zu gehen. Ich würde es für mich behalten.«
    Sie sah, wie er den Kopf senkte, als denke er darüber nach, was sie da sagte, als fühle er sich schuldig. Sie machte das gut, so wie die Frauen es gemacht hatten, die von diesem Mann überfallen und nicht angegriffen worden waren. Diese Frauen hatten davon erzählt, dass sie irgendetwas in ihm – vielleicht sein Gewissen – angesprochen hatten und dass das den Ausschlag gegeben hatte, dass er seine Meinung änderte und von seinem Vorhaben abließ.
    »Was würde Ihre Mutter von Ihnen denken?«,

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