Tom Thorne 06 - Die Geliebte des Mörders
getan hatte.
Mit den Handfesseln, durch die seine Finger ganz gefühllos geworden waren, konnte er sich nur langsam und unter Mühen den Raum ertasten.
Er befand sich in einem Kellerraum, der ungefähr fünf auf sieben Meter maß. Es gab einen längeren Mauervorsprung, der nach oben hin schmaler wurde, bis er für ihn nicht mehr zu fassen war. Sicher ein alter Kohlenschacht, so einen hatte er schon einmal bei einem Freund gesehen, als sie in den Keller gingen, um eine Flasche Wein zu holen. Die Mauern bei seinem Freund waren geputzt und gestrichen gewesen. Die hier waren nur gemauert, die alten unverputzten Ziegelsteine und die Decke waren eine Handbreit über seinem Kopf. Auf der einen Seite befanden sich ein paar Regalbretter. Wo sie nicht mit irgendwelchen Dosen und offenen Kisten voller Dachziegel vollgestopft waren, lag der Staub fingerdick. Darunter waren Papierrollen, ein schwerer Sack hart gewordener Zement, etwas, was sich wie aneinander gelehnte Bilderrahmen anfühlte. Er roch die Farbe und das Terpentin, schmeckte den Ziegelstaub und die feuchte Erde in der anderen Ecke. Als er versuchte zu schlafen, hörte er etwas vorbeihuschen.
Als der Mann die Tür geöffnet und oben an der Treppe gestanden hatte, war es hinter ihm dunkel gewesen. Er hatte sich im Lichtschein einer Taschenlampe den Weg nach unten gesucht. Er hatte ihm eine Tüte mit einem Hamburger und Pommes und einen Plastikbecher Coke gebracht. Er hatte sich zu ihm heruntergebeugt und ihm das Klebeband vom Mund gerissen. Dann ließ er den Lichtkegel auf den schmutzigen Boden gleiten, während Luke aß und er redete.
Als der Mann fertig war, hatte er gewartet und dabei Luke angestarrt, als erwarte er eine Reaktion auf das Gesagte. Auf diese durchgeknallte, gemeine Scheiße, die er über die Menschen erzählt hatte, die Luke liebte. Er hatte mit der Lampe in Lukes Gesicht geleuchtet.
Aber Luke hatte nur dagesessen und das Essen hinuntergeschlungen und sich selbst dafür gehasst, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen.
Danach hatte der Mann Luke gefragt, ob er ihm seiner Meinung nach wieder den Mund zukleben solle. Luke hatte den Kopf geschüttelt. Der Mann hatte gemeint, es sei ohnehin zwecklos zu schreien, da ihn niemand hören würde, aber dass dies ein Test sei. Wenn Luke sich gut benahm und nicht schrie, dann würde er ihm vielleicht das nächste Mal auch die Fesseln an den Handgelenken abnehmen. Und er wäre sich sicher, dass Luke den Test bestehen würde. Er setzte hinzu, dass Luke ein netter Kerl sei, ein vernünftiger Junge. Dass er wisse, was für ein guter Junge er sei.
Luke hatte genickt. Immer nur genickt.
Jetzt, da er im Dunklen kauerte, versuchte er, das alles zu verstehen. Redete der Mann einfach nur so daher oder wusste er tatsächlich Bescheid? Wusste er gewisse Dinge über ihn? Auf alle Fälle gab er vor, die Menschen zu kennen, die Luke am Herzen lagen …
Er war hellwach, so wach war er nicht mehr gewesen, seit die Sache losgegangen war. Vielleicht lag es daran, dass er nicht mehr unter Drogen gesetzt worden war, nicht seit der Mann ihn aus der Wohnung geholt und in das Auto gesteckt hatte. Vielleicht auch daran, dass er geschlafen hatte. Obwohl Luke sich nicht sicher war, ob er tatsächlich geschlafen hatte, und schon gar nicht, wie lange. Vielleicht hatte er auch nur dieses Stadium jenseits der Müdigkeit erreicht, wo man sich wieder gut fühlte, wo man wieder klar denken konnte und nicht nur an Schlaf dachte.
Er dachte ans Überleben.
Er wusste, seine Mutter und sein Vater würden alles tun, was der Mann wollte, um ihn zurückzubekommen. Aber er hatte genug Filme und Fernsehsendungen gesehen, um zu wissen, dass Pläne manchmal schiefgingen. Was ihn und den Mann betraf, war klar: Um hier durchzukommen, war Kontrolle entscheidend. Kontrolle war seine Chance.
Er wusste nur nicht, ob er die Kontrolle behalten oder verlieren musste.
Zwölftes Kapitel
Unter dem Kalender an der blassgelben Wand hing ein altmodischer Kupferstich mit einem Gedicht. Es handelte von einem Mann, der einen Strand entlanggeht und die ganze Zeit zwei Fußspuren sieht: die seinen und die Gottes. Jedoch in den finstersten Phasen in seinem Leben, als er unglücklich war oder sich mit einem großen Problem herumschlug, schien immer eine Fußspur zu verschwinden. In dem Gedicht hadert der Mann mit Gott, weil dieser ihn in seiner schwersten Not verlässt. Doch Gott erklärt ihm, dass der Mann niemals wirklich allein war, auch wenn nur eine Fußspur
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