Tom Thorne 07 - Das Blut der Opfer
findet, ist es nur ein Foto«, sagte Hendricks.
»Du hast es nicht gesehen.«
»Na und?«
»Hör doch zu«, sagte Louise. Sie legte Thorne die Hand auf den Arm und nickte in Hendricks’ Richtung. »Er bringt’s auf den Punkt. Es ist nur ein Foto. Die Leiche wird vielleicht nie gefunden.«
»Und was heißt das für mich?«
»Vergiss es.«
»Wie ich schon zu Phil gesagt hab …«
»Nein, ich hab das Foto nicht gesehen, aber ich weiß, wie der Tod aussieht. Hör doch damit auf, Tom, wir alle wissen das.«
Natürlich hatte sie recht, aber trotzdem, Thorne wurde dieses merkwürdige Gefühl nicht los. Als hätte er ständig Gegenwind. »Es kommt mir einfach so vor, als wär es mein Foto. … Es ist mein Foto.« Er zog die Schultern hoch, wieder dieses Frösteln, und wappnete sich, als Louise sich gegen ihn lehnte. »Es wurde an mich geschickt.«
Hendricks nickte langsam. Er sah zu Louise und dann auf seine Uhr, bevor er ans Fenster trat und hinaus auf die Straße blickte.
»Die Taxifirma sagte, das Taxi brauche zehn Minuten«, sagte Thorne.
Sie gingen in die Diele und standen ein bisschen verlegen herum. Obwohl Thorne den größten Teil der letzten vierundzwanzig Stunden die Frage vermieden hatte, die zwischen ihnen stand, spürte er, wie sie auf ihm lastete. So sehr, dass ihm schwindlig wurde.
Hendricks sprach sie schließlich laut aus.
»Warum an dich?«
Nachdem Hendricks weg war, verschwanden Thorne und Louise schnell im Bett. Doch was dann passierte, war eher halbherzig. Ob es an der Müdigkeit lag, an dem Bier oder etwas anderem, ihre Lust war verschwunden, und die Wärme und Nähe war ihnen beiden genug.
»Das mit dem bescheuerten Blödmann war nicht so gemeint«, sagte Louise, bevor sie sich umdrehte.
Später lag er wach im Dunkeln und bemühte sich, das hartnäckige laute »Warum?« auszublenden. Am Schluss war es nur ein Autoalarm, an den er sich gewöhnt hatte. Und er wusste, die Chance war groß, dass er sich nicht lange mit dieser Frage herumschlagen musste, sondern die Antwort bald erfahren würde. Auch wenn das kaum ein Trost war.
Während Louise neben ihm leise vor sich hin schnarchte, fiel ihm etwas ein, was er heute gesagt hatte. Als Kitson ihn fragte, warum er nicht einfach die SIM-Karte abgegeben und das Handy behalten hatte.
Er hatte sich nicht viel dabei gedacht und es einfach so vor sich hin gesagt.
»Ja, nächstes Mal weiß ich dann Bescheid.«
Er war viel herumgelaufen, nachts, zumindest in den ersten paar Monaten.
Hauptsächlich natürlich, weil es möglich war und weil es noch immer neu für ihn war. Die Wohnung war nicht klein, wirklich nicht, aber nach ein, zwei Wochen begann einem einfach die Decke auf den Kopf zu fallen, und man wollte nur noch raus. Der Regen oder der Wind war ihm egal. Das war nur Wetter, und das Wetter war immer gut.
Heute war es kalt und trocken, als er die Hauptstraße entlangmarschierte, an den vergitterten Läden und den Tankstellen vorbei, die die ganze Nacht offen hatten. Er bog in eine Seitenstraße ein und legte die Hand um den Schraubenschlüssel in seiner Jackentasche, als er auf eine Gruppe Teenager an der Ecke traf.
Anfangs war er nur gelaufen, um die Zeit totzuschlagen, um die endlosen Stunden zu überstehen, in denen er kein Auge zutun konnte. Er brachte noch immer nicht mehr als ein paar Stunden Schlaf pro Nacht zusammen, im Höchstfall drei, und das in Fünfzehn-, Zwanzig-Minuten-Happen. Er konnte sich nicht erinnern, länger geschlafen zu haben seit dem Besuch damals.
Das zweite Mal, dass sein Leben auf den Kopf gestellt worden war.
Schon komisch, wie sich beide Male alles total verändert und in Scheiße verwandelt hatte. Er hatte dagesessen mit Leuten, die mit ihren Polizeiausweisen gewunken hatten …
In den letzten Wochen hatte er den Großteil von Westlondon abgelaufen. Er hatte ganze Nächte auf der Straße nach Shepherd’s Bush und dann weiter auf der Uxbridge Road durch Acton und Ealing verbracht. Er war nach Süden gegangen, um den Gunnersbury Park herum und dann weiter nach Chiswick, hatte zugesehen, wie die Autos in beiden Richtungen über ihm auf der M4 fuhren. Er war im Zickzack durch die kleineren Straßen zurück nach Hammersmith gegangen und kurz vor der Brücke herausgekommen, wo die Themse einen Bogen beschrieb, zwei, drei Kilometer vor der Überführung, in deren Schatten die Wohnung zwischen einem Krankenhaus auf der einen und einem Friedhof auf der anderen Seite lag.
Die Teenager am Ende der Straße
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