Tom Thorne 08 - Die Schuld des Blutes
augenfällig gewesen wäre, andererseits hatte er Emily Walker nie lebend gesehen.
Raymond Anthony Garvey hatte in vier Monaten sieben Frauen umgebracht. Vielleicht hätte er noch viel mehr umgebracht, wäre er nicht nach einer einfachen Pubschlägerei in Finsbury Park festgenommen worden. Die DNA-Probe, die man ihm bei dieser Gelegenheit abnahm, stimmte mit den Proben überein, die man bei zwei der Opfer gefunden hatte. Die Art von Zufall, bei der man Krimiautoren Faulheit unterstellen würde. Aber Glück spielte bei der Lösung derartiger Fälle eine größere Rolle, als die meisten Kriminalbeamten zugeben wollten.
Garvey, der sich standhaft weigerte, über seine Beweggründe zu sprechen, erhielt fünfmal lebenslänglich und musste sich vom Richter sagen lassen, dass er im Gefängnis sterben würde. Was schneller geschah, als man erwartet hatte, da zwölf Jahre nach seiner Verurteilung ein Hirntumor bei ihm festgestellt wurde, an dem er sechs Monate später starb.
Thorne sah wieder auf das Foto von Raymond Garvey - den glückselig leeren Blick eines stinknormalen Psychopathen -, bevor er die Namen der ermordeten Frauen markierte. Kaum hatte er DRUCKEN angeklickt, kam Russell Brigstocke ins Zimmer.
Der DCI setzte sich mit seinem beträchtlichen Hinterteil auf Thornes Schreibtisch und betrachtete die Fotos auf dem Bildschirm. Er rückte die Brille zurecht. »Holland hat mir davon erzählt. Wie stehen die Chancen?« Er fuhr sich
mit den Fingern durch die schütteren Überreste einer einst durchaus beeindruckenden Tolle.
»Ja.« Auch er sah nicht mehr aus wie früher, das war Thorne klar. Die eine Seite war zwar noch immer wesentlich weniger grau, aber der Grauanteil war insgesamt um einiges höher. Er verließ die Seite, Garveys Gesicht machte einem blauen Hintergrund und dem Logo der Met Police Platz, den Zuversicht ausstrahlenden Worten »Working together for a safer London«.
»Die ersten sechsunddreißig Stunden haben wir bereits hinter uns, Tom«, sagte Brigstocke. »Wie weit sind wir?«
Der DCI konnte Tom Thornes Mimik und Körpersprache so gut lesen wie jeder andere. Das Zucken der Schulter war offensichtlich. »Keinen Schritt weiter.« Die aufgeblasenen Wangen. »Wenn sich unser Mörder nicht selbst stellt, können Sie den Auftritt mit der triumphalen Presseerklärung vor der Polizeiwache Colindale vergessen.«
»Was gibt’s bei der FSS?«, fragte Thorne.
Das Forensic Science Service Lab untersuchte emsig die am Tatort gesicherten Spuren: Haare, Fasern, Fingerabdrücke. Die Verteilung der Blutflecke wurde analysiert, um den Tatablauf zu rekonstruieren. Und man versuchte, das Stück Zelluloid zu identifizieren, das Emily Walker umklammert hielt.
»Bin ich dahinter her«, sagte Brigstocke. »Wie immer. Morgen, wenn’s gut läuft. Sonntag ist wahrscheinlicher.«
»Und das E-fit?«
»Haben Sie es gesehen?«
Thorne nickte. Der Nachbar hatte offensichtlich nicht so viel oder nicht so genau gesehen, wie er anfangs behauptet hatte. »Das haut einen nicht gerade um.«
»Seh ich auch so. Ich denk nicht, dass uns das groß weiterhilft, aber was weiß ich? Jesmond wollte das Täterbild möglichst
schnell draußen haben, und jetzt ist es draußen. Heute wird es im Standard und in ein paar überregionalen Blättern abgedruckt. Bei London Tonight bringen sie es auch.«
Brigstocke war genauso leicht zu durchschauen wie Thorne. Und ihm entging nicht der Blick, der übersetzt hieß: reine Zeitverschwendung. Natürlich wollte Superintendent Trevor Jesmond, dass das E-fit, die Phantomzeichnung, möglichst viel Öffentlichkeit bekam, um zu zeigen, dass sein Team vorankam. Bei einem Bild, das aussah wie vom Schimpansen gekrakelt, störte es ihn nicht, dass wertvolle Arbeitszeit damit verschwendet würde, Hunderte von sinnlosen Anrufen offensichtlich Irrer oder aufrichtig Verwirrter entgegenzunehmen, zu bearbeiten und zu protokollieren, in denen behauptet wurde, die gesuchte Person könne nur ihr Nachbar beziehungsweise Johnny Depp sein.
Das Hauptanliegen des Superintendent war und blieb vor allem, wie er bei der Sache rüberkam. Er würde im Verlauf des Tages vor der Polizeiwache Colindale vor die Kamera treten, in einfachen, schockierenden Worten die Faktenlage darstellen, die Brutalität und Grausamkeit des Mordes an Emily Walker hervorheben und verkünden, dass die notwendigen Schritte unternommen würden, um den Täter vor Gericht zu bringen.
Thorne musste dem Mann Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er konnte
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