Tom Thorne 08 - Die Schuld des Blutes
dahinter, die ihre Karten nicht offenlegen möchte. Der Typ in dem Kiosk hat sich richtig aufgeregt. Gerade dass er nicht sagte, man sollte die Todesstrafe wieder einführen. Sie waren so jung, sagte er immer wieder, das ganze Leben lag noch vor ihnen. Warum ist denn wichtig, wie alt sie waren? Das kapier ich nicht. Als ob die Jungen ein größeres Recht auf ihr Leben hätten als die Alten. Als wäre das tragischer, als wenn ein Rentner die Treppe runterfällt.
Die Zeitungen schrieben von einer »strahlenden Zukunft«. Der Zeitungshändler stach auf die Sun oder den Mirror oder was auch immer ein und hörte nicht auf, den Kopf zu schütteln, weil es so traurig ist. Und so unfair. Was man ihnen alles genommen hat, sagte er.
Gestohlen.
Wie die Jahre im Gefängnis wegen einer Tat, für die man nichts kann. Wie ein normales Leben.
Wie das Recht herumzulaufen, ohne bespuckt oder zusammengeschlagen zu werden, und nicht zwanzig Stunden am Tag in der Zelle zu sitzen und sich mit Kopfschmerzen zu quälen und langsam verrückt zu werden.
Am Ende nickte ich nur, nahm meine Zigaretten und ging. Der Typ hatte keine Ahnung, was »fair« bedeutet. Welche Rolle ich in der Zukunft anderer spielen würde, ob diese nun strahlend war oder nicht.
Gestohlen werden kann jedes Leben.
Achtzehntes Kapitel
Thorne hatte sich mit Carol Chamberlain im Starbucks am Oxford Circus verabredet und detailliert beschrieben, welche der zig Filialen dort er meinte. Dank der Northern Line kam er fünfzehn Minuten zu spät, und da Chamberlain ihren Kaffee schon ausgetrunken hatte, beschlossen sie, ein Stück zu laufen. Es war ein strahlender, trockener Samstagvormittag, und auf der Oxford Street wimmelte es nur so von Menschen. Der vierte Oktober, und viele Leute waren offensichtlich ganz wild, ihre Weihnachtseinkäufe bereits früh zu erledigen. In den Läden weihnachtete es gehörig, und die Musik, die aus den Türen quoll, war entsprechend.
Slade, Wizzard, die Pogues, Cliff die Nervensäge Richard.
»Absolut lächerlich«, sagte Chamberlain.
»Ich sag lieber nichts dazu«, meinte Thorne.
Thorne hatte Carol Chamberlain vor vier Jahren kennengelernt, als sie bei einer Ermittlung, die nicht vom Fleck kam, den entscheidenden Tipp geliefert hatte. Damals war sie zwar bereits fünf Jahre außer Dienst, arbeitete aber für die Area Major Review Unit, ein neues Team, das das unschätzbare Knowhow und die Erfahrung pensionierter Kriminalbeamter nutzte, um einen frischen Blick auf alte Fälle zu werfen. Die Grauen Zellen wurden sie häufig - auch von Thorne - genannt. Doch dann hatte er Chamberlain kennengelernt. Mit blau getönten Haaren und Fellpantoffeln, einen schottenkarierten Einkaufswagen im Schlepptau,
mochte sie in Worthing, wo sie lebte, ganz harmlos wirken, aber er hatte sie bei der Arbeit erlebt. Er hatte gesehen, wie sie einen Mann, der halb so alt war wie sie, auf eine Art und Weise zum Sprechen brachte, dass ihm übel wurde. Deshalb und weil er zugesehen und nichts gesagt hatte, da er wusste, sogar als ihm der Geruch des verbrannten Fleisches in die Nase stieg, dass es nicht anders ging.
Sie hatten nie mehr über diese Sache gesprochen.
Vieles hatte sich für sie beide geändert seit diesem Fall, der bei jedem von ihnen auf eine andere Weise seinen Tribut gefordert und letztlich Thornes Vater das Leben gekostet hatte. Auch darüber sprachen sie nicht. Obwohl es immer zwischen ihnen stand, wie ein Schatten, machten sie einfach weiter, koste es, was es wolle, so wie all die anderen Bullen. Der Unterschied im Alter und der Erfahrung spielte keine Rolle.
Während sie sich den Weg durch die Menge bahnten, berichtete Thorne ihr von der Ermittlung; der Verbindung zwischen zwei Mordserien, die fünfzehn Jahre auseinanderlagen. An den Garvey-Fall könne sie sich gut erinnern, sie habe ein paar Jahre für den SIO gearbeitet. Dabei hatte sie die ersten Befragungen mitbekommen.
»Er hat ja nie gesagt, warum er es getan hat, nicht?«, sagte sie. »Wie Shipman. Hat nie einen Grund genannt. Das sind die Schlimmsten.«
»Vielleicht gab es keinen Grund. Vielleicht machte es ihm einfach Spaß.«
»Aber meistens ist doch irgendwas. Fast immer. Die Stimme Gottes, die ihnen sagt, dass sie es tun sollen. Die Nachricht des Teufels in einem Britney-Spears-Song. Irgendwas.«
»Okay, vergessen Sie, was ich gesagt habe. Es sind die Schlimmsten.«
Sie unterhielten sich weiter bis zur Tottenham Court Road, überquerten auf Chamberlains Wunsch hin die Oxford
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