Tom Thorne 09 - Das Geständnis des Toten
dünnhäutig.
Sie brauchte jemanden, der ein Auge auf sie hatte, ob ihr das nun gefiel oder nicht.
Als Laura den Artikel gelesen hatte und den Kopf hob, war sie blass. Sie hatte die langen Haare zurückgebunden und hielt sie mit etwas zusammen, das wie Essstäbchen aussah. »Das ist entsetzlich.« Ihre Stimme war hoch und leise, sie sprach ohne Akzent. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Es ist … böse .« In ihren Augen standen Tränen, aber sie machte keine Anstalten, sie wegzuwischen.
»Nicht böse«, widersprach Frank. »Gegen das Böse ist man machtlos.«
»Gegen das hier ist man machtlos.«
»Warten wir es ab.«
»Du kannst Paul nicht zurückbringen.«
Frank trat zu ihr. Er sah hinunter auf die Zeitung, auf die Schwarz-Weiß-Zeichnungen. »Das kann man nicht so hinnehmen«, sagte er. »Unmöglich.«
»Du solltest dir das alles erst mal eine Weile durch den Kopf gehen lassen«, sagte sie.
»Paul war auch dein Freund.«
»Ich weiß.«
»Du weißt doch noch, wie ich ihn kennenlernte?«
Sie nickte. »Bitte mach keine Dummheiten.«
Er wusste noch nicht, was er tun würde. Nicht im Detail. Natürlich würde er Clive anrufen – am Anfang tat er das immer – und sie würden die Köpfe zusammenstecken und einen Geschäftsplan entwickeln, so wie immer.
»Versprich es mir«, sagte Laura.
Frank griff nach der Zeitung und warf sie in den Abfalleimer. Er stellte sich weitere Strichmännchen vor mit großen, runden, vor Überraschung weit aufgerissenen Mündern. Mit Zickzacklinien durch die geraden Striche, die für Arme und Beine standen, und roten Streifen über ihrer rechteckigen kleinen schwarz-weißen Welt.
Er trug seinen Teller zum Geschirrspüler, öffnete die Tür und beugte sich hinunter.
»Mach dir keine Sorgen.«
15
Abgesehen von den paar Minuten, in denen sie die Reste von Jennys Suppe aß, hatte Helen das Gefühl, den ganzen Abend am Telefon verbracht zu haben. Sie war kaum durch die Tür, da rief Jenny an. Dann wollte Caroline, Pauls Mutter, wissen, ob schon feststehe, wann die Leiche freigegeben werde. Und ihr Vater rief an, um ihr zu sagen, bei ihm stehe jederzeit ein Bett für sie bereit, falls sie ihre Meinung ändere.
Obwohl sie dankbar war, dass sich so viele Menschen um ihr Wohlergehen sorgten, hatte sie das Telefon ausgehängt, es sich aber sofort anders überlegt, weil sie fürchtete, Jenny und Katie wären hysterisch genug, ihr die Polizei auf den Hals zu schicken, aus Angst, sie könnte eine Dummheit machen.
Außerdem hatte sie geträumt, dass Paul anrief.
Sie war sich nicht sicher, wann sie es geträumt hatte, ob sie
noch halb wach war oder schon schlief, aber der Sinneseindruck war immens, das Hochgefühl, als sie das Telefon abnahm und seine Stimme hörte.
»Die Wahrscheinlichkeit muss eine Million zu eins sein: dass jemand an einer Bushaltestelle denselben Namen hat wie ich. Freut mich allerdings, dass es alle so mitgenommen hat. Ach ja, wie geht’s dem Baby?«
Sie wusste, solche Gedanken waren nicht ungewöhnlich. Das Gefühl, der Verstorbene könne jeden Moment durch die Tür kommen, als wäre nichts gewesen. Es war wohl irgendwo zwischen Verleugnung und Gebet anzusiedeln, vermutete Helen und war erleichtert, dass wenigstens ein Teil ihrer Gefühle normal war.
Aber die Tränen kamen noch immer nicht.
Sie war in die Tiefgarage hinuntergegangen und hatte Pauls Auto ausgeräumt, hatte alles aus dem Innenraum und dem Kofferraum in zwei Plastiktüten gestopft. Sie kam gerade durch die Wohnungstür, als das Telefon schon wieder klingelte. Sie holte tief Luft, bevor sie abhob.
»Helen? Hier ist Gary.«
Sie hatte Schuldgefühle, weil sie noch nicht mit Gary Kelly gesprochen hatte, nachdem es passiert war. Natürlich war es bescheuert, irgendjemandem Vorwürfe zu machen, außer diesem Abschaum, der geschossen hatte. Aber das hatte ihr nicht geholfen, war kein Bollwerk gewesen gegen die Flut der irrationalen Gedanken, die über sie hereingebrochen waren.
Wenn die dumme Kuh in dem Auto nur nicht in Panik geraten wäre.
Wenn Paul nur nüchtern genug gewesen wäre, um schneller zu reagieren.
Wenn sie nur nicht zurück zu Garys Wohnung gefahren wären.
Sie fragte ihn, wie es ihm gehe, und er erzählte ihr, langsam
würde es besser. Dass er sich eher aus Mitgefühl denn aus medizinischen Gründen hatte beurlauben lassen und nächste Woche wieder anfangen wolle zu arbeiten. Er erkundigte sich, wie es ihr gehe, und fing, bevor sie antworten konnte, zu weinen
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