Tom Thorne 09 - Das Geständnis des Toten
Freitagnachmittag, dann der Freitagnachmittag eine Woche darauf. Vierzehn Tage, bevor er gestorben war.
Sie holte ihren Terminkalender und checkte die Termine. Sie erinnerte sich, dass der zweite Freitag der Abend gewesen war, an dem Paul sehr spät nach Hause gekommen war und nach Knoblauch gerochen hatte. Dass sie bereits im Bett gelegen und so getan hatte, als schlafe sie schon. Dabei hatte sie sich gefragt, ob er sich wohl mit einer anderen traf, und sich eingeredet, dass er wahrscheinlich nur mit Kollegen zusammen gewesen war.
Vor langer Zeit, als sie noch grün hinter den Ohren war,
war sie mit einem alten Suffkopf von der Murder Squad einen trinken gegangen, der schon zu viele Dienstjahre auf dem Buckel hatte. Nach ein paar Gläsern hatte er angefangen, sich über die harten Tatsachen und die Merkwürdigkeiten im Umgang mit Mordfällen auszulassen.
Helen hatte es nie vergessen.
»Die Sache ist die, wir lernen diese Leute erst kennen, wenn sie tot sind, wenn die armen Teufel erschossen oder erstochen oder sonst was wurden. Wir wissen nicht mal, wie sie ausgesehen haben, nicht wirklich . Wissen nicht, wie sie geschaut, sich bewegt, geredet haben oder wirklich gewesen sind. Manchmal finden wir jede Menge Scheiße über sie heraus, weil wir überall nachbohren. Wir erfahren, wie sie wirklich waren, auch wenn wir gar nicht danach suchen. Und die Leute, mit denen sie zusammen waren, erfahren das manchmal auch erst dann.«
Helen griff nach den zwei NCP-Quittungen und trug sie zu dem Tisch in der Diele. Sie legte sie nebeneinander hin, für morgen früh. Dann schaltete sie das Radio aus und ging zurück ins Schlafzimmer.
Zehn Minuten später lag sie im Dunkeln und sagte: »Was für ein Scheißspiel spielst du, Hopwood?«
16
Das Videoüberwachungszentrum, das den Großteil des West End abdeckte, befand sich über dem Trocadero, einem Einkaufs-und-Unterhaltungs-Zentrum zwischen Coventry Street und Shaftesbury Avenue. Während die Leute drei Stockwerke unter ihnen ihr Geld für Ballerspiele und »I ♥ London«-T-Shirts rauswarfen. Oder für die anderen Vergnügungen, die in der Oxford Street, in Soho und am
Leicester Square geboten wurden. Eine private, vom Westminster Council bezahlte Sicherheitsfirma beobachtete ihre Bewegungen und zeichnete sie für die Nachwelt auf.
Oder um sie gegebenenfalls als Beweismittel zu benutzen.
Nach ihrem Besuch auf der Toilette zeigte Helen ihren Dienstausweis am Empfang und füllte in einem Formular aus, für welchen Zeitraum und Ort sie die Aufzeichnungen wünschte. Sie kannte das Prozedere und wusste, in etwa fünfzehn Minuten wäre alles bereit. Ein paar Zeitschriften lagen aus, um sich die Wartezeit zu vertreiben. An den Wänden hingen Drucke von Kandinsky.
Es war ein strahlender Donnerstagvormittag. Sie trat ans Fenster, um die Sonne zu genießen, während sie über den Piccadilly Circus auf die Baumwipfel des Green Park blickte, die in der Ferne gerade noch zu erkennen waren.
»DC Weeks?«
Die Frau, die aus dem Lift trat und Helens Namen rief, war wahrscheinlich jünger, als sie aussah. Zumindest hoffte Helen um der Frau und all der Menschen willen, die sie kannten, dass sie nicht so übellaunig war, wie sie aussah. Sie hievte sich aus dem Sofa.
Meist war es ihr unangenehm, wie die Menschen auf ihre Schwangerschaft reagierten – sie anfassten oder mit ungewollten Ratschlägen und gönnerhaften Kommentaren traktierten. Andererseits fand sie es irgendwie verstörend, dass jemand so offensichtlich unbeeindruckt war und sie behandelte, als würde sie … angeben.
Sie lächelte und versuchte, nicht vorschnell zu urteilen. Sie traf jeden Tag Menschen, die keine Kinder bekommen konnten oder ihre Kinder verloren hatten, als Babys oder als sie bereits älter waren – durch Drogen, Missbrauch oder Gewalt. Es gab genug Leute, für die ihr dicker Bauch alles andere als schön war.
»Etwas mehr Zeit wär nett gewesen.«
Gott, war das eine übellaunige Kuh …
Sie fuhren schweigend in den obersten Stock, und Helen wurde in den Vorführraum geführt. Der Teppichboden und die Wandverkleidung schluckten den Großteil des Lärms und die Dame sprach etwas lauter. »Geben Sie mir Bescheid und ich lasse das erste Band laufen.«
Sie sagten noch immer »Band«, obwohl die Aufnahmen längst auf Festplatten gespeichert wurden, die Kapazitäten für viele tausend Stunden hatten. Was bedeutete, dass die Aufnahmen monatelang gespeichert wurden und es in manchen Fällen Jahre dauerte,
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