Tom Thorne 09 - Das Geständnis des Toten
Bandenkrieg«, sagte sie.
Bis auf zwei Jungs machten sich alle aus dem Staub. Dabei taten sie, als gehe sie das alles nichts an, und alberten herum, während sie verschwanden. Doch es war offensichtlich, dass sie möglichst weit wegwollten von diesem Ort und diesem Gespräch. Von den zwei Jungs, die geblieben waren, stellte sich der Kleinere als der Gesprächigere heraus, was jedoch nicht viel bedeutete.
»Die reden über alles Mögliche«, sagte er. »Wissen tun die nichts.«
»Was glaubst du denn?«
Der coole Gesichtsausdruck verschwand, zwar nur für eine Sekunde, aber Helen merkte, dass er sich freute, nach seiner Meinung gefragt zu werden. Er trug Jeans und ein weites Basketballshirt, seine Haare waren extrem kurz geschnitten. Als er sich umwandte, sah Helen, dass er am Hinterkopf eine Art
Muster einrasiert hatte. »Wenn das ein Krieg ist, wird die andere Gang gar nicht mitkriegen, wie sie plattgemacht wird.«
»Was ist das für eine andere Gang?«
Der Junge zuckte die Schultern und sah zu seinem Freund, der sich so unkoordiniert bewegte wie ein Giraffenbaby. Er stieß mit der Fußspitze in die Erde und drehte sich langsam auf einem Bein, schlenderte ein paar Schritte weg, wandte sich wieder um und schlenderte zurück.
»Gehört ihr zu dieser Gang?« Helen deutete mit einem Kopfnicken nach hinten auf die Mauer.
»Kann sein«, sagte der Kleine. Dabei steckte er die Daumen in die Taschen seiner Jeans und stellte sich breitbeinig hin. Er war mindestens einen Kopf kleiner als Helen.
»Kennt ihr ein paar von den Leuten auf der Liste? Wave und Sugar Boy?«
»Jeder kennt Wave.«
»Ist er der Chef?«
Wieder zuckte der Junge die Schultern. Sein Freund sog die Luft durch die Zähne, als wolle er gleich gehen.
»Wenn es kein Krieg ist, wer, glaubst du, hat dann Michael und … den anderen Jungen umgebracht?« Helen hatte den Namen des zweiten Jungen in den Nachrichten gehört, aber er war ihr entfallen.
»Mikey und SnapZ«, sagte der Junge.
»Warum wurden Mikey und SnapZ umgebracht? Was denkst du ?«
Der Junge neigte den Kopf, als denke er darüber nach. Helen ließ ihm Zeit, blickte von einem Jungen zum anderen, machte sich Gedanken über ihren Oberlippenflaum und ihr Auftreten. Sie hatte keine Ahnung, wozu die beiden fähig waren, und hatte dennoch das Gefühl, Süßigkeiten und eine Limo würden reichen, um sich Infos zu kaufen.
»Vielleicht zu wenig Respekt gezeigt«, sagte der Kleine.
»Wer?«
»Ist egal. Das reicht, verstehn Sie?«
»Ich denke schon.«
»Man braucht einen Ruf, und auf den muss man schauen, klar? Man muss der Chef im Ring sein, und das heißt, man muss jedem zeigen, wo’s langgeht. Ich sag dir eins, Alter, wenn mir einer blöd kommt, der kann was erleben.«
Helen nickte, um zu zeigen, dass sie verstanden hatte.
»Das weiß jeder. Mikey, SnapZ, jeder … «
»Wie wird man Mitglied in einer Gang?« Helen stellte die Frage, als sei sie ihr soeben durch den Kopf geschossen. »Gibt es ein Aufnahmeritual oder so?«
Der Junge reckte das Kinn vor. »Sind Sie’ne Art Undercoverbulle?«
Helen merkte, wie sie errötete, als der Größere der beiden vortrat, sie von oben bis unten musterte, und sie sah in seinen Augen etwas, das da nicht hingehörte. Sie war sich sicher, dass diese Jungs bereits sexuelle Erfahrungen gesammelt hatten und keine Kinder mehr waren – zumindest nicht das, was man unter einem Kind verstand.
Dem Größeren hing ein Speichelfaden zwischen den Zähnen, als er sie angiftete: »Sind Sie fett oder bloß schwanger, hey?«
Helen brauchte zehn Minuten für die relativ kurze Wegstrecke zurück zur High Street. Das Laufen wurde zunehmend schwierig, genauso wie das Autofahren. Dazu musste sie ihren Sitz weit nach hinten schieben, damit ihr Bauch Platz hatte, und dann hatte sie Mühe, mit den Füßen die Pedale zu erreichen. Heute Morgen war die letzte Untersuchung vor der Geburt gewesen. Der Arzt hatte gelächelt und ihr erklärt, alles sei in Ordnung. Alles sei wunderbar im Plan. »Machen Sie es sich gemütlich und lassen Sie es sich gut gehen«, sagte er. »Bereiten Sie sich auf den großen Tag vor. Bald haben Sie es hinter sich.«
Was, zum Teufel, latschte sie dann in Lewisham herum, schwitzte wie ein Schwein und fühlte sich wie ein Blödmann? Verschwendete ihre Zeit und kam sich so daneben vor wie noch nie in ihrem Leben.
Ausnahmsweise war das Bedürfnis, auf dem Absatz kehrtzumachen, größer als das Bedürfnis, um sich zu schlagen.
Helen war klar, dass
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