Tom Thorne 10 - Tödlicher Verdacht
Thorne. »Drei- oder viermal im Jahr. Hin und wieder durfte sie einen kleinen Brief oder eine Zeichnung dazulegen.«
Thorne sah das Mädchen, das er aus Donnas Küche in Erinnerung hatte, auf etwa einem Dutzend mit Fingerabdrücken verschmierten Fotos aufwachsen. Ein schlaksiges Kind mit einer Puppe auf dem Arm. Ein Mädchen mit langem blondem Haar, das mit seinen Freundinnen im Basketball-Outfit posierte. Eine mürrische Teenagerin, jetzt mit kurz geschnittenem und schwarz gefärbtem Haar, deren einstudierter und perfektionierter Gesichtsausdruck irgendwo zwischen Langeweile und Feindseligkeit lag.
»Als sie sechzehn wurde«, sagte Donna, »habe ich einen Brief vom Sozialamt bekommen, in dem stand, sie hätten in Anbetracht der Schwere meiner Straftat beschlossen, dass es nicht gut für meine Tochter wäre, wenn sie mich besucht, bevor sie achtzehn ist. Dann, im vergangenen August …« Sie hielt inne und holte tief Luft. Als sie fortfuhr, sprach sie kaum lauter als im Flüsterton. »Ich bekam einen Brief, in dem es hieß, sie würde vermisst.«
»Was ist passiert?«
»Sie ist einfach verschwunden. Ihren Pflegeeltern zufolge ist sie eines Abends ausgegangen und nie wieder nach Hause gekommen. Sie waren bestürzt, klar, aber da sie achtzehn war, zeigte die Polizei kein Interesse, und damit war die Sache gegessen.« Sie nahm die Zigarettenschachtel in die Hand, ließ sie dann wieder auf den Tisch fallen. Ihr Flüstern verdunkelte sich. »Die vom Sozialamt haben gesagt, sie dachten, ich wüsste das gern. Sie dachten, ich wüsste es gern. Ist das zu fassen?«
»Wenn sie im August verschwunden ist«, sagte Thorne, »war das nur ein paar Monate, bevor Sie das erste Foto bekommen haben.«
»Sie ist nicht verschwunden. Sie wurde entführt .«
»Denken Sie nicht, die beiden Dinge könnten was miteinander zu tun haben?«
Wenn Donna die Frage gehört hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie starrte Thorne nur an, schwer atmend, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie erneut nach ihren Zigaretten griff und die Schachtel immer und immer wieder in den Händen drehte. »Ich muss sie zurückhaben«, sagte sie. »Ich wurde ihr weggenommen. Jetzt wurde sie mir weggenommen.« Sie sah Thorne an. »Können Sie sie finden?«
Thorne hielt ihrem Blick nicht stand. Seine Augen wanderten zur Tischplatte, auf das sich wandelnde Gesicht von Ellie Langford.
»Können Sie das?«
Ein achtzehnjähriges Mädchen, verschwunden. Vermisst.
Ein weiteres.
Thornes Handy klingelte in seiner Jackentasche, und er stand rasch auf. Als er sah, dass ihn Detective Sergeant Dave Holland anrief, sagte er Donna, er müsse den Anruf entgegennehmen, und ging hinaus in den Flur.
»Es geht um Chambers«, sagte Holland. »Keine guten Neuigkeiten.«
»Oh, Gott.«
»Der Mistkerl ist gerade im Fernsehen.«
Thorne ging zurück ins Wohnzimmer und fragte Donna, ob es ihr etwas ausmachen würde, ihren Fernseher einzuschalten.
Tatsächlich redete ausschließlich Chambers ' Rechtsanwalt, der auf den Stufen vor dem Old-Bailey-Strafgerichtshof posierte und im Namen seines Mandanten eine Erklärung abgab. Ihm zufolge war »Mr Chambers zu überwältigt, um etwas zu sagen«. Er dankte den Angehörigen und Freunden sowie denjenigen, die den Glauben an seinen Mandanten und die Hoffnung auf ein gerechtes Urteil nicht aufgegeben hätten. Chambers selbst stand ein Stück hinter ihm zu seiner Rechten. Er hielt den Kopf gesenkt, nickte zustimmend und sah nur ein Mal auf, um den Fotografen zuzuwinken, die seinen Namen riefen.
Er lächelte schüchtern. Seine Krawatte hatte er bereits abgenommen.
Kate war hinter Thorne in der Türöffnung aufgetaucht. »Er hat es hundertprozentig getan«, sagte sie und nickte in Richtung Fernseher. »Das habe ich von Anfang an gesagt, nicht wahr, Don? Er hat das arme Mädchen umgebracht und irgendwo versteckt. Schau ihn dir an, man kann es sehen .«
»Man sieht gar nichts«, entgegnete Donna. »Man kann sich nie sicher sein.« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht alles ist so, wie es scheint, oder? Ich meine, ich dachte auch, Alan wäre tot.«
»Danke für den Tee«, sagte Thorne.
Sechstes Kapitel
Eine unverhoffte Begegnung mit seinem Chief Superintendent konnte bei Tom Thorne ein breites Spektrum an Emotionen hervorrufen. Widerwille, Grauen und Wut gehörten zu den häufigsten davon. Ihn jedoch ausgerechnet heute, die Füße unter Russell Brigstockes Schreibtisch, zu sehen, löste bei Thorne nichts weiter als stinknormales
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