Tom Thorne 10 - Tödlicher Verdacht
verlassen hatte. Während die groß angelegte, landesweite Suchaktion andauerte und alle größeren sozialen Online-Netzwerke rund um die Uhr überwacht wurden, entwarf ein Kriminalpsychologe das detaillierte und glaubhafte Profil einer jungen Frau mit echtem Ehrgeiz.
Einer jungen Frau, die Pläne für ihre Zukunft geschmiedet hatte.
Einer jungen Frau, die keinen Grund gehabt hatte, davonzulaufen oder sich das Leben zu nehmen.
Selbstverständlich war ausgiebig von den Medien Gebrauch gemacht worden, doch wie so oft hatte das mehr Probleme verursacht, als es genutzt hatte. Es war eine Menge Zeit und Mühe dafür verschwendet worden, Dutzenden von »Sichtungen« nachzugehen, die jede Woche nach Aufrufen im Fernsehen oder in den Zeitungen telefonisch in der Einsatzzentrale eingingen. Jede einzelne von ihnen, einschließlich derer aus dem Ausland, musste gründlich überprüft und widerlegt werden, doch das hatte Chambers’ Verteidigungsteam nicht davon abgehalten, sie begierig aufzugreifen. Hatte seine selbstsichere Anwältin nicht daran gehindert, vor Gericht zu behaupten, dass es schlichtweg absurd sei, irgendjemanden wegen Mordes an Andrea Keane zu verurteilen, solange diese regelmäßig gesichtet werde.
Thorne hatte sich nicht unterkriegen lassen und die Aufmerksamkeit der Geschworenen auf die sogenannte »Todeserklärung« gelenkt – ein vierzehnseitiges Dokument, das sämtliche Ermittlungen zusammenfasste, die durchgeführt worden waren, um die Behauptung zu stützen, dass Andrea Keane nicht mehr am Leben war. Er hatte sein eigenes Exemplar geschwenkt, Chambers’ Anwältin fest angesehen und ihr gesagt, dass es schlichtweg absurd sei zu glauben, Andrea Keane sei nicht ermordet worden.
Dann hatte er das Dokument so besonnen wie möglich wieder weggelegt, ohne dass ihm dabei die Bewegung und das gedämpfte Schluchzen und Aufstöhnen von den Besucherplätzen entgangen wäre. Er hatte den Blick weiterhin auf die Erklärung gerichtet und tief Luft geholt, als er an einem farblich hervorgehobenen Absatz hängen blieb:
Hoffnungen und Sehnsüchte
Die vermisste junge Frau wurde von verschiedenen Freunden als »glücklich«, »voller Tatendrang« etc. bezeichnet.
Sie war auf der Suche nach einer Mietwohnung.
Sie machte eine Ausbildung zur Krankenschwester.
»Machen Sie mal Musik an, Sam.«
Karim beugte sich hinüber und schaltete das Radio ein. Der eingestellte Sender war Capital FM , und Karim fing sofort an, zu irgendeinem eintönigen Remix mit dem Kopf zu nicken. Thorne spielte mit dem Gedanken, seine Autorität einzusetzen, kam dann jedoch zu dem Entschluss, dass er keine Lust dazu hatte. Stattdessen schloss er die Augen und hielt sie für den Rest der Fahrt nach Norden geschlossen, um die Musik auszublenden, um alles andere auszublenden.
Als sie endlich auf den Parkplatz beim Peel Centre einbogen, war es beinahe Mittag. Während Thorne auf dem Weg zum Becke House versuchte sich zu entscheiden, ob er eine Kantinenmahlzeit über sich ergehen lassen oder sich ein Pub-Mittagessen im Oak genehmigen solle, sagte ihm ein Polizist, der das Gebäude gerade verließ, dass jemand auf ihn warte.
»Ein Privatdetektiv.«
»Was?«
»Viel Glück.«
Der Polizist fand das offenbar äußerst witzig, und Thornes Reaktion – er seufzte und ließ die Schultern hängen, als er die Treppe hinauf und ins Foyer von Becke House ging – schien die Sache noch amüsanter für ihn zu machen.
Thorne entdeckte seinen Besucher sofort und steuerte schnurstracks auf ihn zu. Um die fünfzig und ungepflegt, eine Symphonie in Braun und Beige mit ungewaschenem Haar und Hush Puppies. Er bestätigte so ungefähr jedes Vorurteil, das Thorne gegen armselige kleine Männer hatte, die Chevrolet Cavalier fuhren und sich ihr Brot damit verdienten, dass sie ihre Nase in die Angelegenheiten anderer Leute steckten.
»Ich bin Detective Inspector Thorne«, sagte er.
Der Mann sah verwirrt zu ihm auf. »Und?«
»Mit Ihrem Spürsinn ist es nicht weit her, was?«
Thorne drehte sich zu der Stimme um, die von der anderen Seite des Foyers kam, und sah, wie eine junge Frau auf ihn zuging und dabei errötete.
»Ich glaube, Sie suchen nach mir.«
Thorne griff sich instinktiv an die Krawatte, um sie zu lockern. »Entschuldigung.« Er spürte, wie der Mann, den er angesprochen hatte, hinter ihm grinste. »Ich war den ganzen Vormittag bei Gericht, deshalb …«
»Sind Sie davongekommen?«
Thorne starrte die Frau nur an, während sie noch stärker
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