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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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herunter. Ich zog die elastischen Bänder über den Kopf und warf das Ding mitsamt dem Schlauch auf den Boden. Der Apparat gab noch einige Sekunden lang sein lautes Saugen und Schlürfen von sich, und dann … Stille. Auch das leise Kinderweinen war verschwunden.
    Im Schlummerzustand mußte mein Gehirn das melodische Säuseln des CPAP zu Tonios längst vergangenem kleinen Kummer umgeformt haben. Ich wollte ihn wiederhaben. Ich wollte ihm endlos lauschen. Ich griff im Dunkeln neben mein Bett, fand den Schlauch und zog mir die elastischen Bänder über den Kopf. Das Gerät nahm automatisch das sanfte Pumpen von Luft in die Maske wieder auf, mit dem ein Atemstillstand verhindert wurde. Das Blasen klang wie zuvor, doch es war kein Weinen mehr darin auszumachen. Ich hatte es gestört.
    Den ganzen Tag bereits versuchte ich, das lebensechte Weinen in meinem Kopf aufzurufen. Ich bin kein großer Anhänger übernatürlicher Phänomene, konnte mich aber des Eindrucks nicht erwehren, daß Tonio mir über meinen CPAP -Apparat etwas hatte übermitteln wollen. Vielleicht die schreckliche, in Worten nicht auszudrückende Wahrheit über sein Ende. Was er, auf den Asphalt geschmettert, erlitten haben mußte, oder danach im Rettungswagen oder auf dem OP -Tisch. Oder, für hirntot erklärt, auf seinem Sterbebett, als ihm nur noch über einen Schlauch Luft zugeführt wurde. Vielleicht hatte er da die Anwesenheit seiner Elterngespürt, ihre Küsse und ihr Streicheln, und ihre erstickten Abschiedsworte gehört. Heute morgen hatte Tonio etwas erwidern wollen. Nichts Tröstliches. Nur, wie schlimm es war. Die Schmerzen. Der Abschied. Und dazu hatte er sich seiner schmerzlichsten Kinderstimme bedient. Ihrer traurigen Melodie. Ohne Worte.
28
     
    Sosehr sich die wendigen Scooter der Flußpolizei auch bemühten, die heranrückende Fanflotte auf Distanz zu halten, unser Motorboot fuhr nach wie vor in den vordersten Reihen. Stockend drangen wir in das Labyrinth der Stadt ein. Schon die ersten Grachtenbrücken waren vollgepackt mit in abgöttischer Not blökendem Oranjevieh. Im Vergleich zu Juni ‘88, als das Grau der Freizeitlumpen noch durch das Rot-Weiß-Blau schimmerte, waren die Fans jetzt üppiger in den Farben ihrer Religion ausstaffiert. Viele von ihnen trugen formlose Perücken aus orangerotem Engelshaar, manche mit einem Durchmesser von bis zu eineinhalb Metern. Der Art Director des Films Amadeus wäre neidisch gewesen.
    Aus der Distanz betrachtet, gingen die gelockten Perückenenden nahtlos in einen pulvrigen orangefarbenen Nebel über, den Spraydosen erzeugten. Wenn der Rauch das Ventil zischend verließ, war er von einem klaren Orange, doch wenn er sich über das Wasser ausbreitete, bekamen die Nebelbänke bald etwas Unreines. Es erinnerte mich an die Wachsmalkreide, mit der ich als Kind ein mit Bleistift vorgezeichnetes Ziegeldach ausmalte. Die Kreide nahm immer ein wenig von dem Graphit an, wodurch das Orange schmuddelig wurde – ganz realistisch, würde man sagen, doch mich bekümmerte es.
    Als wir in die Brouwersgracht bogen, stupste Mirjam mich in den Rücken. Ich sollte zu unserem Gastgeber kommen, der hinten beim Motor am Ruder saß. Er gab mir schreiendzu verstehen, daß er an der Herengracht vorbeifahren wollte, um dann zu versuchen, über die Prinsengracht und die Spiegelgracht möglichst nahe an den Museumplein heranzukommen. Das würde uns einen Vorsprung verschaffen.
    Ich nickte und überlegte, ob ich von dort zur Kreuzung Hobbemastraat/Stadhouderskade gelangen könnte, ohne auf Absperrungen zu stoßen. Wir hatten dem befreundeten Ehepaar nicht erzählt, daß dort für uns das eigentliche Ziel dieser Fahrt lag.
    Die Melkmeisjesbrug war in ihrer ganzen Rankheit ein lebender Triumphbogen, der sich aus einem dicken, unirdisch orangen Nebel erhob. Das Rot-Weiß-Blau, das darauf wimmelte, hatte tausend Beine und wedelnde Tentakel, und es johlte wortlos aus tausend Kehlen.
    Das Spielerboot, gefolgt vom Fahrzeug der Offiziellen, bog gleich hinter der Melkmeisjesbrug in die Herengracht. Unser Kapitän drehte auf. Der Bootsbug hob sich ein wenig und durchschnitt das Wasser der Brouwersgracht. Stracks voraus. Ich konnte gerade noch einen Blick nach links werfen. Die Herengracht war, soweit das Auge reichte, mit ihrem von Bäumen gebildeten Kuppeldach ein langer Tunnel, ein einziges Gewusel aus sich bewegenden Armen, die alle Flaggen, Fahnen und Wimpel schwenkten.
    Wer es nicht besser wußte, konnte das eintönige Gejubel

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