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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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genausogut als Verzweiflungsschrei aus Tausenden von Kehlen deuten. Die Brücken über die Herengracht schienen wie überwuchert von jener besonderen Moosart, in der ein rostiges Orange vorherrscht, allerdings wimmelnd, als hielten es Maden in wogender Bewegung. Und dann dieser dicht über die Gracht dahintreibende rotbraune Nebel, wie der Dampf über hochkontaminiertem Spülwasser aus einer Giftfabrik. In Kürze würde das Spielerboot nicht mehr zu sehen sein.
    Ich mußte an das idyllische Loenen in der Veluwe denken, wo in jenem Winter bei dichtem Nebel die Jauche ausgebracht wurde. Im Laufe des Vormittags färbten sich dietieferen Schichten schmutziggelb wie Londoner Smog über einem Industriegelände. Armer Tonio, den ich in dem unberührten ländlichen Gebiet vor dem Schmutz der Stadt hatte schützen wollen. Die Fenster seines Kinderzimmers mußten gegen den Gestank des flüssigen Mists hermetisch geschlossen bleiben, der, im Bodennebel gefangen, nur horizontal aus den Äckern entweichen konnte … über die Straße … in die Gärten rings um die Häuser …
    Wir fuhren am West-Indisch Huis vorbei, das am Herenmarkt rechts von der Brouwersgracht lag. Dort hatten wir am 24. Dezember 1987 geheiratet, während Tonio in Mirjam bereits Form annahm. Hier war mein Vater an jenem unfreundlichen Wintermorgen infolge plötzlicher Atemnot um ein Haar ins eiskalte Wasser gefallen. Nach der Eheschließung wankte er röchelnd und nach Luft ringend an der Gracht entlang, um blutigen Auswurf darin zu versenken. Ich sah im letzten Moment an seinen sich verdrehenden Augen, daß ein Schwindelanfall ihn fast aus dem Gleichgewicht brachte, und konnte ihn gerade noch rechtzeitig vor einem Sturz bewahren. Lungenemphysem. Er war erst zweiundsechzig, hatte aber ein halbes Jahrhundert lang Kette geraucht. Er hatte nie damit aufgehört. Geheime chemische Stoffe in der Zigarette sorgten dafür, daß seine von glasigem Schleim durchwucherten Lungen sich öffneten – bis zur nächsten Zigarette.
    Vorgesehen war, Champagner im Sonesta Hotel nahe der Koepelkerk zu trinken, aber es lief darauf hinaus, daß ich am Empfangstresen die Reservierung absagte, während draußen der Rest der Familie meinem halbtoten Vater in ein Taxi half. Ich wollte ihn hinterher nicht auch noch als böse Fee in Männerkleidung hinstellen, doch daß auf dieser Hochzeit, die den Fötus legitimieren sollte, kein Segen ruhte, war deutlich.
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    Der neue Grabstein hatte nichts zugedeckt. Stärker als an jedem der vorangegangenen Tage zwischen dem 23. Mai und jetzt stand der heutige Tag, der dreizehnte Juli, im Zeichen des Pantonionismus . Das lag natürlich auch daran, daß wir das Haus für mehr als einen Besuch des Ziegenhofs oder des Friedhofs Buitenveldert verlassen hatten und zum erstenmal seit dem Essen in der Staalstraat wieder wirklich in der Stadt waren. Tonio war überall. Alles atmete Tonio. Jeder noch so geringe Gegenstand, jedes noch so unbedeutende Ereignis zeigte ein winziges Stück seiner Seele.
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    »Wenn das so weitergeht«, rief mir Mirjam ins Ohr, »wird mir schlecht.«
    Das Motorboot drosselte in der schäumenden Biegung in die Prinsengracht kaum die Geschwindigkeit, wodurch es stark krängte, ohne seine japanischen Verbeugungen zu unterbrechen. Mirjam klammerte sich an mir fest und sagte: »Ich muß gleich kotzen.«
    Als wir unter der Brücke durch waren und wieder geradeaus fuhren, richtete ich mich etwas auf, um unserem Freund am Ruder ein Zeichen zur Mäßigung zu geben. Vielleicht verstand er es erst beim Anblick der würgenden Mirjam.
    Juli 1994 . Die Bootsfahrt von unserem Küstendorf auf Ibiza nach Ibiza-Stadt sollte eine gute Stunde dauern. Unterwegs würden wir uns dem Prospekt zufolge am Anblick der vorbeigleitenden Felsenküste erfreuen können. Eine glatte, tiefblaue See … weiße Schaumlassos um die aus ruhigen Wogen aufragenden Megalithen … kalte Getränke an Bord im Preis inbegriffen …
    Der spanische Schiffer jagte das kleine Boot in weniger als einer halben Stunde nach Ibiza-Stadt, während der Mann,der die Getränke hätte verteilen sollen, bereits mit dem Feuerwehrschlauch bereitstand, um die Galle der innerhalb von zehn Minuten seekrank gewordenen Passagiere von Deck zu spülen. Der Bug schlug dermaßen hart auf die Wasseroberfläche, daß ein Walfischschwanz es ihm nicht hätte nachmachen können. Mirjam war die erste, die sich übergeben mußte, sofort gefolgt von Tonio (der aus Solidarität zu seiner Mutter

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