Tonio
Richtung der vorbeifahrenden Taxis. Genau in dem Moment kam das Auto unserer Freundin Nelleke vorbei, die unsere gemeinsamen Freunde Allard und Annelie nach Schiphol bringen wollte. Sie hatten keine Zeit, anzuhalten und Hinde nach ihrem neuen, geheimen Leben zu fragen, denn sie waren bereits spät dran, und das Flugzeug nach Hongkong wartete nicht.)
14
Ich war so glücklich über Tonios Ankunft, daß ich ihn von Anfang an soweit wie möglich an meiner Jubelstimmung teilhaben lassen wollte. Dazu gehörte Musik. Mit dem erst wenige Wochen alten Baby hockte ich mich vor eine meiner Lautsprecherboxen, aus denen das Bachsche Oboenkonzert gellte. Die Lautstärke war beträchtlich, doch das schien demKleinen nichts anzuhaben. Er war gerade gefüttert worden, und ich hatte ihn mir auf die Schulter gelegt, bis sich ein säuerliches Bäuerchen in meinen Nacken ergoß. Wenn in China Frauen erfolgreich zu den langsamen Bach-Teilen niederkamen, würden die auch gut für die Verdauung des Säuglings sein. Tonio sah sehr zufrieden aus, sein entspanntes Gesicht schien zu lächeln.
Das Ritual des gemeinsamen Niederhockens vor dem Lautsprecher, wobei ich das Baby sanft schaukelte, vertrug viele Arten von Musik. Wenn meine Oberschenkelmuskeln zu zittern begannen, stand ich auf, um mit dem Kind in den Armen durchs Zimmer zu tanzen. Manchmal hing es beinahe frei in der Luft, lediglich von meinen Fingerspitzen gestützt, auf denen ich den kleinen Körper balancierte. Wenn die Musik (zum Beispiel ein Menuett) Anlaß dazu gab, wirbelte ich Tonio mit weitausholenden Schwüngen herum, soweit meine Arme reichten. Und hin, hoch hinauf … und wieder zurück, nach unten … durchs Tal … und dann mit einem Bogen nach oben …
So tanzte ich wie in einem Rausch (und vielleicht hatte ich bei Tisch auch etwas Wein getrunken). Ich ging davon aus, daß sich das Baby in meinen schwingenden Armen genauso zufrieden fühlte wie zuvor, auf meinem Oberschenkel, vor der Lautsprecherbox. Bis ich es einmal unterließ, in meiner Verzückung die Augen zu schließen, und direkt in Tonios Gesicht blickte. Bei jedem Schwung schräg aufwärts verzogen sich seine Gesichtszüge zu einer kleinen, molligen Maske der Angst, mitsamt heruntergezogenen Mundwinkeln und weit aufgerissenen Augen. Gott weiß, wie oft er vor Todesschreck schon so eine Miene aufgesetzt hatte, ohne daß ich es mitbekommen hatte.
Ich hörte sofort auf, ihn umherzuschwenken und -zuwirbeln, und drückte den Kleinen sanft an mich. »Oh, wie dumm von mir, lieber Tonio, dich so unsanft zu schaukeln … Sorry, sorry.«
Er weinte nicht, und sein Gesicht hatte wieder ungefähr den entspannten Ausdruck wie kurz nach dem Füttern. Es dauerte Monate, bevor ich wieder mit ihm zu tanzen wagte, wobei ich ihn dann ängstlich senkrecht an meine Brust drückte. Die Erinnerung an das verzerrte Altmännerköpfchen in Todesnot sollte ich nicht so schnell loswerden. Mirjam hatte ich es nie erzählt. Um ein Haar hätte ich es jetzt getan, auf dem Innenhof der Intensivstation.
»Minchen, mir fällt gerade etwas ein … nur eine kleine Erinnerung …«
»Hauptsache, sie betrifft nicht Tonio«, sagte sie. »Das wird mir jetzt wirklich zuviel.«
»Ach, laß nur. Ein andermal.«
Es kostete mich wenig Mühe, die Anekdote für mich zu behalten, denn ich sah jetzt plötzlich das Gesicht des erwachsenen Tonio in Todesnot auf der Schattenseite des kleinen Platzes aufleuchten. Es hatte genau die Züge des Säuglings im Sommer ‘88 – das schnelle Zittern um Augen und Mund, die Rötung, den Ausdruck höchster Angst. Nur flog er jetzt nicht in meinen Armen in Richtung Decke, sondern schoß von seinem Fahrrad über die Motorhaube des plötzlich aufgetauchten Fahrzeugs und dann weiter, in einer schnellen Rutschbewegung über das Autodach …
KAPITEL IV
Das Schulhaus
1
»Laß uns wieder zurückgehen«, sagte ich zu Mirjam. »Sonst findet Hinde uns nicht.«
Der hoch umschlossene Innenhof erzeugte eine immer stärkere Klaustrophobie in uns, was jedoch in dem kleinen Raum, in dem der Geruch von abgestandenem Kaffee hing (für ewig mit Tonios Geburt verbunden), nicht besser wurde. Hinde ließ lange auf sich warten. Auf der Uhr über der Tür war es halb eins.
2
In Tonios erstem Lebensjahr gelang es mir ganz gut, ein durchschnittlich arbeitsames Leben zu führen, das meiner kleinen Familie gewidmet war. Alarmierend war nur, daß die Verwalter von Huize Oldehoeck in der Jacob Obrechtstraat, die
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