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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Brüder Warners (oder The Warner Brothers von der Amsterdamer Schule, wie wir sie nannten), das von ihrem Onkel entworfene Apartmentgebäude, das niemals abzustoßen sie uns geschworen hatten, an eine Vermögensverwaltungsfirma verkauften. Von dem Zeitpunkt an baute man jede frei werdende Wohnung rigoros um, wobei jedes Ornament, das an das ursprüngliche Amsterdamer-Schule-Interieur von 1924 erinnerte, verschwand. Die umgestaltete Wohnung wurde dann zum dreifachen Preis an einen neuen Bewohner vermietet – vorzugsweise an einen Angehörigen des Diplomatischen Corps im Umkreis des Museumplein, denn so einer feilschte nie um den Mietpreis und blieb auch nie länger als ein paar Jahre, wonach die Miete für den nächsten Konsul oder dessen rechte Hand weiter heraufgesetzt werden konnte.
    Infolge der hohen Mieterfluktuation fanden in Huize Oldehoeck jedesmal in zwei Wohnungen gleichzeitig Renovierungsarbeiten statt. Im Lift oder auf der Treppe (deren dunkelvioletten Marmor man noch nicht herausgerissen hatte) begegnete ich immer häufiger einem grau eingestaubten Mann in Jeansanzug und Cowboyhut: dem Bauleiter des gesamten Projekts und, wie sich später herausstellte, einem der neuen Verwalter.
    »Von dem würde ich keinen Gebrauchtwagen kaufen«, sagt man gelegentlich von einer nicht vertrauenswürdigen Person. Nun, von diesem Cowboy in Denim würde ich nicht mal einen neuen annehmen, und wenn man mir noch etwas dazubezahlte. Obwohl jünger als ich, hatte er tiefe Falten zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln, und die verliehen ihm das Gesicht eines traurigen Wolfs, mit dem er überaus mitfühlend und schuldbewußt dreinschauen konnte, leicht schräg, wie ein Hund, der die Menschensprache seines Herrchens zu ergründen versucht. Wenn ich mich über den Baulärm beschwerte, weil ich schließlich zu Hause arbeitete, kroch er in sich zusammen vor Servilität. Der Mann hatte ein schlechtes Gewissen – und war weiter auf seinen Vorteil bedacht. Er bot mir kriecherisch, händeringend seine Hilfe dabei an, die Störungen zu beschränken. Währenddessen änderte sich nichts, außer daß der Cowboy meine Achillesferse immer besser kennenlernte. Ich stelle mir im nachhinein vor, daß sein Händeringen in Händereiben überging, sobald ich außer Sicht war: Er wußte, wie er die van der Heijdens aus ihrer Wohnung, der vielleicht schönsten und größten des ganzen Oldehoeck, vertreiben konnte. Einfach den Baulärm verstärken.
    Meinerseits mit einem schlechten Gewissen mietete ich, um meine Arbeit nicht länger unter dem Krach leiden zu lassen, ein Zimmer am Kloveniersburgwal, ein paar Häuser von dem Gebäude entfernt, in dem Mirjam und ich ‘84 und ‘85 so glücklich gewesen waren. Ich machte mir selbst (und Mirjam) weis, daß ich dort gut zurechtkäme. Ich fuhr jeden Morgen mit der 16 hin, doch was ich dort hauptsächlich entwickelte, war eine unglaubliche Rastlosigkeit. Mit Schere und Leim machte ich auf Karton vom Format DIN A3 eine möglichst vollständige Montage aus allen Notizen zum neuen Roman, die sich im Laufe von drei Jahren angesammelt hatten – auch die beschriebenen Bierdeckel, wodurch das einen halben Meter hohe Manuskript von der Seite einen stark gewellten Anblick bot. Ich redete mir ein, auf der Basis dieses rohen, aber in zwingender Reihenfolge zusammengeklebten Materials eine definitive Fassung direkt auf der Schreibmaschine erstellen zu können.
    Je höher das Bierdeckelmanuskript, um so lähmender meine Schwellenangst. Nach dem Gebastel mit Schere und Klebstift passierte nichts. Ja, ich schrieb erotische Briefe, angeblich um mich für die große Arbeit warmzulaufen. (Zugegeben, aus diesen Episteln sind viel später Passagen in den Roman eingeflossen.) Ich hatte unsere Mietbelastung ungefähr verdoppelt und meine Verantwortung als Oberhaupt und Ernährer der Familie halbiert. Zu Hause waren Mirjam und der Kleine den Launen des Verwaltercowboys ausgeliefert. Wenn ich die Etage am Kloveniersburgwal am Nachmittag verließ, dann nicht immer um über die Oude Hoogstraat und die Damstraat zu den Straßenbahnhaltestellen am Kaufhaus Bijenkorf zu gehen und dort die 16 nach Hause zu besteigen. Ich durchquerte immer häufiger, gehetzt, das Rotlichtviertel in Richtung Spui mit seinen Kneipen.
    Das Frühjahr ‘89 verlief so in einer Art gepolsterter Leere. Die Unruhe siegte. Was war falsch gelaufen bei meiner Entscheidung für das »normale«, unauffällige Leben als treusorgender Vater und Ehemann? Der

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