Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Mingels
Vom Netzwerk:
erschrockene Gesicht Tristans. Der Schmerz darin. Das ist noch gar nichts, denkt sie.
    Und glaub bloß nicht, dass ich darüber reden will, sagt sie. Das habe ich gemacht, das hilft nicht. Sobald ich daran denke, ist alles wieder da. Es wird nicht besser, die Zeit heilt nichts.
    Sie reibt sich über die Stirn, als könnte sie so die Gedanken wegwischen. Mit einem Fuß, merkt sie, steht sie auf dem geflochtenen Bettvorleger, mit dem anderen auf dem Parkettboden. Eine unsichere Position. Sie macht einen weiteren Schritt auf den Schreibtisch zu. Rotbraunes Holz, das schmale Telefon darauf, ein silbernes Tablett mit einer Wasserflasche. Sie liest den Namen auf dem Etikett, wiederholt ihn lautlos, bis er jeden Sinn verliert. Sie konzentriert sich, beschwört ein Bild herauf: das Hotel, die Zimmer nebeneinander, helle, zweidimensionale Waben. Jemand badet, jemand sieht einen Film, jemand telefoniert, jemand schläft. Sie versucht, sich selbst in das Bild zu setzen: eine Frau. Und ein Mann.
    Tristan ist neben sie getreten, sie spürt seine Hand in ihrem Rücken.
    Ich kann das nicht, sagt sie.
    Und was ist mit mir?, fragt er. Mit uns?
    Keine Ahnung. Sie sieht ihn an. Die Wut ist fort. Sie ist aufgeflammt und erloschen, sie war heiß gewesen und kalt. Ich glaube, sagt sie, daran habe ich nie gedacht.
    Das Licht schwindet allmählich. Sie kann seine Arme kaum noch sehen, sein Gesicht. Sie könnte es nicht beschreiben. Es ist schön, könnte sie sagen, alles so klar: die Augen, die dunklen Brauen, der Schwung des Mundes. Aber ich vergesse es ständig, ist das nicht seltsam? Sie hört, wie eine Zimmertür ins Schloss fällt, dann flucht eine Frauenstimme. Die Heizung gibt ein Rauschen von sich, das wie ein Störsender klingt. Sie sagt: Ich gehe jetzt besser. Sie nimmt ihre Tasche vom Stuhl. Er bringt sie zur Tür. Als wäre das sein Zimmer, denkt sie. Seine Vorhänge und Spitzenkissen. Als hätte sie ihn besucht und sie hätten sich nichts zu sagen gewusst. Sie sieht ihn noch einmal an, versucht sich zu erinnern, jetzt schon. Dann geht sie zum Aufzug und er schließt die Tür.
    Sie hat Davids Nummer gewählt und vor dem ersten Klingeln aufgelegt. Sie hat das Gefühl, er ist zu weit weg. Sie müssten schreien, Rauchzeichen senden, ein Morsealphabet ersinnen, eins der Ehe und der Einsamkeit. Kurz nachdem sie ihn kennengelernt hat, hat sie ihn das erste Mal vermisst. Sie lag den ganzen Tag auf ihrem Bett, die unordentliche Tagesdecke, darunter die bunt gemusterte Bettwäsche. Sie stellte sich sein Gesicht vor, die Freude darin, wenn sie sich wiedersähen, den Schmerz, der ein Abglanz wäre und eine Ahnung. Damals hätten sie sich den Namen des anderen tätowieren lassen sollen: ein Liebesbeweis an Stellen, die sie selbst nur im Spiegel finden könnten.
    Wenn sie die Augen schließt, sieht sie Yola vor sich. Wie sie morgens das Haus verlässt. Wie sie auf ihrem Rad davonfährt, den Schulranzen auf dem Gepäckträger, eine dicke Kordel am Lenker. Wenn es bergab geht, ist es wirklich, als ob ich auf einem Pferd sitze! Sie hatte gelacht. Bestimmt hatte sie gelacht. Und irgendwann die Augen verdreht und »Kinderkram« gesagt, Kinderkram, und die Kordel abgeschnitten. Sie erinnert sich an die gemeinsame Studienreise nach Krakau, sie und Karen und Yola. Wie sie in einem Pulk der Reiseführerin hinterherliefen, die einen roten Schirm hoch in die Luft hielt, wann immer die Gruppe um eine Ecke bog. An das Gefühl, aufzufallen, wie auf einer Demonstration oder einer Kundgebung, der rote Schirm das Parteizeichen. Yola, die kaum zehn Jahre alt war und das erste Mal verliebt. In einen Sechzehnjährigen, der mit seiner Tante reiste und der, wenn überhaupt, nur Augen für Karen hatte. Und Karen, die irgendwann den Liebeskummer ihrer kleinen Schwester bemerkte und den Jungen mit Nichtachtung strafte. Das blumengeschmückte Bildnis der schwarzen Madonna im Torbogen, die heiße Schokolade, unbeschreiblich süß, zähflüssig wie Teer. Yola trank drei Tassen davon und erbrach sich danach, mitten auf dem Rynek Glowny, während eines der dreirädrigen Taxis, die für eine Kombi-Tour zum KZ Auschwitz und zu den Salzminen warben, dicht an ihr vorbeifuhr.
    Vorbei. Eben noch da und dann weg. Unfassbar, dass man sich nie wieder sehen soll, nicht in diesem Leben zumindest. Und immer noch fraglich, ob es ein anderes gibt.
    Auf dem Speicher findet Anne zwei Umzugskartons, die sie auffaltet, den Boden mit Klebeband stabilisiert. Sie geht in Yolas Zimmer. Holt

Weitere Kostenlose Bücher