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Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Mingels
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die Kleider aus dem Schrank. Faltet sie neu. Legt die Stapel in die Kiste. Darauf die Bücher, die Ordner, die Pinnwand mit ihren Fotos. Die Stifte und Notizbücher, die Zeitschriften und Stofftiere. Sie legt alles in den Karton, nimmt sich den nächsten Schrank vor, das nächste Regal. Es ist fast hell, als sie fertig ist. Sie legt sich auf Yolas Bett. Sie kann sie nicht riechen. Vielleicht hatten sie den gleichen Geruch. Vielleicht ist es das. Yola, wie sie die Augen zusammenkneift, um die Brille nicht tragen zu müssen. Sie steht vor einem Schaufenster, sieht die Auslage an, betrachtet sich kurz. Von Ferne sieht sie fast erwachsen aus, von Nahem nicht. Yola am Morgen, das Muster des Kissens auf ihrer Wange. Ihre Ungeduld, manchmal ihr Unglück. Ihr seltsames Lächeln. Zögerlich. Bittend. Um was eigentlich?
    Am frühen Nachmittag holt Anne David am Bahnhof ab. Sie sieht ihn erst, als er vor ihr steht. Seine Reisetasche über der Schulter, einen roten Pullover unter der Lederjacke, den sie noch nie an ihm gesehen hat. In der Stadt ist viel Verkehr. Verkaufsoffener Sonntag, sagt David. Er hat ihr etwas mitgebracht. Einen Armreif aus Horn. Von welchem Tier? Weiß nicht, sagt David. Irgendwas Afrikanisches.
    Sie muss die Hand ganz schmal machen, um den Reif anzuziehen. Lass ihn nicht fallen, sagt David. Sonst geht er kaputt, hat der Verkäufer gesagt.
    Nein, sagt sie. Ich passe auf.
    Aus dem Auto vor ihnen schauen zwei Jungen durch das Rückfenster und winken. Sie winken zurück. Auf dem Dach der Tankstelle sitzen wieder die Möwen, der Rand des Daches ist ganz weiß von ihrem Kot. Seltsam, denkt Anne, dass ich das jetzt erst sehe. Der Armreif an ihrem Arm schimmert gelblich, wenn die Sonne darauf scheint. Vielleicht von einem Wasserbüffel, denkt sie, oder einer Gazelle. Das Auto vor ihnen biegt ab, die Jungen geben ihnen ein letztes Zeichen: die Daumen hoch, als wollten sie sie für etwas loben.
    Woran denkst du?, fragt David.
    Schwer zu sagen, sagt Anne. Nichts Besonderes. Und du?
    Ich denke ans Klassentreffen. Er wischt sich kurz über den Bart und durch die Haare. Es ist seltsam, sagt er. Wir tun so, als ob die Zeit stillsteht. Als ob es alles noch so wäre wie früher. Und diese alten Geschichten … Es kommt einfach nichts Neues dazu. Ich fühle mich wie ein Schauspieler. Wir spielen die Feuerzangenbowle nach. Er seufzt. So lustig war das eigentlich alles nicht. Damals.
    Sie setzen sich mit Decken auf die Terrasse. Essen Suppe, von der ihnen warm wird. Betrachten die Hunde, die sich am Rand der Terrasse sonnen.
    Und, irgendwas passiert?, fragt David.
    Nein. Sie hält den Teller schräg, um den letzten Rest Suppe heraus zu löffeln. Eine Dame lässt immer etwas übrig. Wer hat das gesagt? Ihre Großmutter? Seine? Dann ist sie eben keine Dame. Dafür bleibt das Wetter schön.
    Christa hat angerufen, sagt sie. Heute Morgen. Sie ist wieder mit dem Schweden zusammen.
    Sie sehen sich an, lächeln.
    Vorübergehend, sagt Anne.
    Hoffentlich, sagt David.
    Und Karen hat angerufen. Sie kommt am Dreiundzwanzigsten.
    Schön, sagt David. Dann kann sie mit mir den Baum kaufen gehen.
    Einen großen diesmal?, fragt Anne.
    David überlegt. Ja, sagt er, diesmal sind wir dran.
    Die großen und die kleinen Bäume: David und Karen auf der einen Seite, Anne und Yola auf der anderen, im jährlichen Wechsel. Letztes Jahr haben sie keinen Baum gehabt, nur ein paar Äste, die Karen im Wald gesammelt hat. Diesmal also einen großen. Anne wird einige Kugeln dazukaufen müssen, jedes Jahr verschwinden welche. Irgendwo, unerklärlich. Wie Socken, Löffel, Schlüssel.
    Es wird kalt, sagt David.
    Sie nehmen ihre Decken und Teller. Rufen die Hunde. Schließen die Tür hinter sich.
    Der Nachmittag ist vorbei, es wird Abend, dann Nacht, dann wieder Morgen. Die Tage vergehen, einer nach dem anderen. Sie nehmen etwas mit und bringen etwas zurück. Und wir, denkt Anne, wir stehen hier und schauen ihnen nach.
    Komm, sagt David, ich mache uns einen Tee.
    Ja, sagt sie. Ich bin schon da.

II
    DAVOR

Am Morgen ihres letzten Tages auf der Insel trafen sich alle zu einem Spaziergang am Deich. Frank und Esther hätten nicht kommen müssen. Sie hätten in ihren Zimmern warten können, bis die anderen das Hotel verlassen hätten, und dann wäre Frank zu Esther gegangen. Zwei geschenkte Stunden. Die Geräusche des Zimmermädchens auf dem Flur, ihr Klopfen an der Tür, und Esther, die gerufen hätte: Nicht jetzt! Bitte nicht jetzt! Aber ihr Fehlen wäre

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