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Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Mingels
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aufgefallen. Möglich, dass einer der anderen Teilnehmer gefragt hätte, wo ist Frank, hat jemand Frank gesehen?, oder dass die Dozentin aus Grenoble nach Esther gesucht hätte, um sich bei ihr einzuhängen und eines der Gespräche zu führen, die Esther mit ihrer Vertraulichkeit verblüfften. Möglich auch, dass jemand bemerkt hätte, dass sie beide fehlten, und seine Schlüsse daraus gezogen hätte.
    Das Wasser hatte sich weit zurückgezogen und dunklen Schlamm hinterlassen. Eine Lachmöwe stelzte durch den Schlick. Schafe grasten zu beiden Seiten des Dammes, dazwischen Lämmer mit langen, durchscheinenden Ohren.
    Deichlämmer, sagte Thomas, der die Insel gut kannte. Eine örtliche Delikatesse.
    Als ihn einige der Frauen bestürzt anblickten, setzte er eine spöttische Miene auf. Der Wind war stärker geworden, er riss einem Radfahrer die Kappe vom Kopf, schleuderte sie auf die von Kot gesprenkelte Wiese. Ein langbeiniger Hund stürmte den Schafen hinterher, ihr Meckern wurde lauter, eine Frau schrie den Namen des Hundes, für einen kurzen Moment kam Panik auf, dann machte der Hund mitten im Laufen kehrt, rannte zu seiner Besitzerin zurück, die letzten Meter mit gesenktem Oberkörper. Erwartungsvoll, nicht reumütig. Esther hörte, wie jemand sagte: So verrecken den Schafen die Lämmer im Leib. Ein Möwenschwarm flog über das Wasser, weit draußen auf dem Meer konnte Esther helle Flecken sehen, wie Schwäne oder Bojen. Sie legte sich eine Hand über die Augen, doch die Flecken wurden nicht deutlicher.
    Seeräuber gesichtet?, fragte Frank.
    Nein, sagte Esther.
    Sie drehte sich zu ihm um, er stand so nah, dass sie ihn hätte berühren können.
    Nein, keine Seeräuber. Lass uns weitergehen, vorsichtig bist du nicht gerade.
    Sie waren zwölf Mediävisten. Sie kamen aus Frankreich, Spanien, Dänemark, Deutschland, England und der Schweiz, sie waren – wie Frank es gegenüber Esther ausgedrückt hatte – der langweiligste internationale Haufen, den man sich vorstellen konnte.
    Auf Außenstehende müssen wir verrückt wirken, hatte er gesagt, als sie am Ankunftstag beim Abendessen nebeneinandersaßen. Draußen toben Kriege, das Klima spielt verrückt, Flugzeuge stürzen ab und Züge entgleisen, und wir streiten uns darüber, ob die Minnegrotte Metapher oder realer Ort sei.
    Er schüttelte den Kopf und lachte leise, und Esther sagte: Das hat doch nichts miteinander zu tun.
    Frank entgegnete: Genau das sage ich ja.
    Dann hatten sie geschwiegen und Esther hatte versucht, ein Gespräch mit dem Mann zu ihrer Rechten anzufangen, einem weißhaarigen Professor aus Sheffield, der so sehr mit seinem Essen beschäftigt war, dass er Esthers Frage nach seinem Forschungsgebiet mit einem einzigen Namen – Erec – beantwortete. Als sie sich von ihm abwandte, sah sie, dass Frank sie anlächelte, und unwillkürlich lächelte sie zurück.
    Das Hotel, in dem die Tagung stattfand, war ein zweistöckiges, reetgedecktes Haus, das direkt am Meer stand. Vom Sitzungszimmer aus waren Himmel und Wasser zu sehen, beide von stumpfem Grau und nur durch eine dunkle Horizontlinie voneinander getrennt. Während der Referate konnte Esther den Blick schweifen lassen. Manchmal trieben Böen die Wolken eilig vorüber, manchmal schien für Minuten die Sonne und blendende Messingblitze tanzten auf dem Wasser. Einmal sah Esther einen Raubvogel, der seine Beute im Schnabel hielt – einen Fisch oder ein junges Nagetier –, einmal ein Flugzeug, das auf die Hauptstadt der Insel zusteuerte. Natürlich würde hier im Sommer mehr zu sehen sein: Schiffe, Boote, vielleicht Surfer und schwimmende Plafonds, auf denen sich die Badenden ausruhen konnten. Sie sah sich selbst die wenigen Schritte zum Meer rennen, die Haare so blond wie das vom Wind gebeutelte Gras zwischen den Dünen. Jetzt war November, es war kalt und außer ihnen gab es kaum Touristen auf der Insel. Die Einheimischen bedachten sie mit argwöhnischen Blicken und grüßten nicht.
    Die Reihenfolge der Referate schien keiner inhaltlichen Logik zu folgen. Einem Referat zur Frau als Naturwesen folgte eines über ritterliche Integrationsrituale, an das sich Ausführungen zu Treue und Freundschaft in einer Brautwerbung des Kudrun -Epos, zur Queste in Wolframs Parzival und zur Frage der Willensfreiheit in mittelalterlichen Epen sowie je ein Vortrag zur Liebe in den deutschen Artusromanen, zum treuen Eckart im Venusberg, zu Diskursinterferenzen von Ehe und Gewalt und zur Korrespondenz zwischen Rittern und

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