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Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Mingels
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die ich besuche, bestärkt mich in meinem Entschluss, die Universität zu verlassen.
    Ist das wahr?
    Esther näherte ihr Gesicht dem seinen, und bevor er antworten konnte, fragte sie sehr sanft: Und warum, meinen Sie, sollte mich das interessieren?
    Frank griff mit beiden Händen nach seiner Brille und nahm sie ab, seine Augen sahen plötzlich harmlos aus, er sah kurz den Kellnern hinterher, die die letzten Gläser abräumten, dann sagte er: Nun, weil auch Ihnen langweilig ist.
    Das typische Geplänkel, würde Esther später sagen und hinzufügen: Ich fand dich schrecklich, wirklich. Aber sie würde auch zugeben, dass sie sich da schon in ihn verliebt habe. Sie würde nicht sagen: verliebt. Sie würde sagen, du warst attraktiv, auf verwirrende Weise anziehend, und er wäre es, der sagen würde: Also Liebe auf den ersten Blick.
    Vielleicht war es wirklich die Langeweile, die Esther und Frank zusammengebracht hatte – und der Umstand, dass ihnen alle anderen Teilnehmer des Kongresses schlicht unmöglich erschienen: Claire aus Grenoble, kaum älter als Esther, aber von altjüngferlicher Anhänglichkeit. Der weißhaarige Johan Mortimer aus Sheffield, der die meisten Referate mit grimmigem Kopfschütteln begleitete. Die sommersprossige Dänin Lone, deren Englisch von schwedischen Wörtern und grundlosem Lachen durchsetzt war. Die arrogante Professorin aus Paris. Der eitle Assistenzprofessor aus Valencia. Thomas, der nervöse Initiator der Tagung. Die beiden dicklichen Mediävisten aus Bern. Henner, ein narkoleptischer Doktorand aus Berlin, der mit seiner Professorin angereist war.
    Nach dem Abendessen waren sie nur kurz zu der restlichen Gruppe in die Lounge gegangen. Esther hatte sich mit Claire unterhalten, die ihr beinahe sofort von einem Leiden erzählte, das sie seit frühester Kindheit plage, eine Darmkrankheit, die es ihr verbot, Zucker in jeglicher Form zu sich zu nehmen. Esther war nicht sicher, ob sie alles richtig verstand. Sie nickte und suchte mit ihren Blicken Frank, der am Kamin lehnte und dem Gespräch zwischen Lone und dem Spanier folgte. Er lächelte nicht, nicht wirklich zumindest. Er presste die Lippen aufeinander und zog eine kleine, nicht zu deutende Grimasse, mit einer steilen Falte zwischen den Augenbrauen. War er belustigt oder hörte er nur angestrengt zu? Als sie ihn beim Essen von der Seite betrachtet hatte, war ihr aufgefallen, wie dick die Gläser seiner Brille waren. Jetzt konnte sie das Ausmaß seiner Kurzsichtigkeit nur daran erkennen, dass seine Augen riesig schienen, dunkle Fische, die von rechts nach links schossen. Er hatte einen schönen Mund, das hatte sie schon früh bemerkt. Die Lippen waren schmal, aber auf eine Art geschwungen, die Esther an jemanden erinnerte: Den ganzen Nachmittag hatte sie überlegt, an wen, doch es war ihr nicht eingefallen. Wenn er sprach, konnte man sehen, dass die oberen Eckzähne ein wenig vorstanden. Er bemerkte ihren Blick und nickte ihr zu. Als sie kurz darauf den Raum verließ und sich im Foyer den Schmuck in einer der Vitrinen anschaute, folgte er ihr.
    Schau nicht so düster, sagte er, als sie sich zu ihm umdrehte.
    Er war vom Sie zum Du gewechselt, er hatte es nicht für nötig gehalten, sie zu fragen, ob ihr das recht sei.
    Ich schaue nicht düster, sagte Esther. Sie klang verärgert, und er legte eine Hand unter ihren Ellbogen: Lass uns etwas rausgehen.
    Und jetzt?, fragte sie, als sie vor dem Hotel standen.
    Sie sah zum weißen Holztor am Ende der Auffahrt und stieß die Fußspitze in den Kies. Das gelbe Licht einer altmodischen Laterne beleuchtete die Auffahrt und einen Teil des planierten, von Beeten gesäumten Vorgartens. Drei Fahnen waren an hohen Masten neben dem Tor angebracht: deutsch, schwedisch, dänisch. Dunkel glänzende Autos standen in akkurater Reihe im Innenhof, eine geduldig wartende Armada.
    Wie wäre es mit einem Spaziergang?
    Sie liefen die Auffahrt hinunter, gingen einige Meter auf dem Gehsteig, bis sich links von ihnen ein Weg in die Dünen öffnete.
    Gib mir deine Hand, sagte Frank, und sie gab sie ihm.
    Der Boden unter ihren Füßen wurde lockerer, bald liefen sie durch Sand. Die Gräser streiften ihre Beine, der Wind hüllte sie in einen Kokon aus Lärm und Kälte. Die Wellen warfen sich gegen den Sand und ließen einen breiten Rand Gischt zurück: eine zitternde, poröse Masse, die an Watte oder Isolierschaum erinnerte und in winzigen Fetzen über den Sand trieb. Er hatte ihre Hand inzwischen losgelassen, und sie

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