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Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Mingels
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mit der Hand: Leiser. Sie hatte die braunen Haare unter eine wollige weiße Mütze geschoben, wodurch ihr schmales, spitzes Gesicht noch kleiner wirkte.
    An einer Landstraße blieb die Gruppe stehen.
    Vom Wattenmeer zur Nordsee, erklärte Thomas mit lauter Stimme, sind es an der schmalsten Stelle der Insel nur sechshundert Meter. Wir sind jetzt an ungefähr dieser Stelle. Will heißen – er zeigte mit ausgestreckter Hand auf die Häuserreihe jenseits der Straße – hinter diesen Häusern befindet sich das Meer.
    Er klang sicherer als die Tage zuvor, und einen Moment lang schien es, als wollte er noch mehr sagen, doch dann ließ er die Hand sinken und sie überquerten die Straße. Frank hatte auf Esther gewartet und lief nun neben ihr.
    Das ist alles höchst interessant, sagte er in gelangweiltem Tonfall. Die Frage ist bloß, ob es nicht doch ein Fehler war, mitzugehen.
    Er schniefte kurz, während er in seinen Jackentaschen kramte.
    Hatte ich keine Handschuhe dabei? Er sah Esther Hilfe suchend an, und sie sagte: Woher soll ich das wissen?
    Herrje, sagte er und steckte missmutig seine Hände in die Taschen. Es war ein Fehler, mitzugehen.
    Sie hatten einen kleinen Kiefernhain durchquert und liefen durch eine Wohnstraße. Die meisten der Häuser hatten Namen, die in verschnörkelten Eisenbuchstaben an der Hauswand angebracht oder mit weißer Farbe auf das Garagentor geschrieben waren. Ein Bauschild kündigte neue Reihenhäuser für Einheimische an.
    War mit der ersten Berührung am Strand bereits alles entschieden? Esther stellte sich diese Frage, als sie zurück ins Hotel gingen, und dann noch einmal, als sie nicht einschlafen konnte. Am Morgen stellte sie auch Frank die Frage, und er schob das Kissen unter seinem Kopf zurecht und fragte schläfrig: Wie soll man das denn so genau wissen?
    Esther kam seinem Gesicht sehr nahe: Die Lider seiner geschlossenen Augen bebten, sie konnte den Augapfel darunter ausmachen, seine eiligen Bewegungen.
    Ich meine, sagte sie, war es wirklich unvermeidlich? Hätten wir nicht aufpassen oder uns, sie suchte nach einem passenden Wort, dann sagte sie feierlich: beherrschen müssen?
    Sie wusste selbst nicht, was sie hören wollte: eine Erklärung vielleicht, eine unangreifbare Theorie, die sie von jeder Schuld freisprach. Frank hob den Kopf vom Kissen und betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen.
    Weiß nicht.
    Er schüttelte den Kopf wie ein Hund, der sich die Nässe aus dem Fell schleudert.
    Doch, hätten wir wohl schon.
    Er lächelte sie kurzsichtig an, dann legte er seinen Kopf auf ihren Bauch, packte ihr T-Shirt mit den Zähnen und schob es nach oben.
    Wollte ich aber nicht, sagte er.
    Sie hatten den Wecker auf halb sieben gestellt. Zeit genug für Frank, in sein Zimmer zu gehen. Zeit genug, um heiß und kalt zu duschen und die Müdigkeit zu vertreiben. Zeit genug, um sich auf die Begegnung im Frühstücksraum vorzubereiten und um das schlechte Gewissen, das aufzukommen drohte, zu beruhigen. Denn ein schlechtes Gewissen hatten sie. Beide waren sie verheiratet – sie hatten es einander in der Nacht gestanden, zu einem Zeitpunkt, als ohnehin schon alles zu spät war. Sie hatten vermieden, zu behaupten, sie seien unglücklich. Im Gegenteil: Sie lobten ihre Ehepartner in höchsten Tönen. Frank erzählte von seiner Frau Ara, die einen Antiquitätenladen betreibe, mit Möbeln so elegant und erlesen wie sie selbst. Und Esther sprach von Jean als ihrem Traummann. Tatsächlich habe sie zu Beginn ihrer Beziehung – also vor elf Jahren, fast zwölf – oft von ihm geträumt. Frank nickte nachdenklich und sagte, er träume selten, aber er verstehe, was sie meine. Sie waren großzügig und loyal, zufrieden mit ihren Ehen, ihren Leben, und das einzig Befremdliche war, dass sie während dieses Gesprächs nackt auf Esthers Bett lagen, schläfrig und reuelos wie Hauskatzen.
    So wenig sie am ersten Abend gesprochen hatten, so viel sprachen sie jetzt miteinander. Es war, dachte Esther, als hätten sie erst das Wichtigste klären müssen, bevor sie sich eingehender miteinander beschäftigen konnten. Ihre Stellung zueinander. Die Art, von der ihre Beziehung sein würde.
    Frank erzählte von seiner Familie. Seine Eltern kamen ursprünglich aus Russland. Sie bat ihn, einige Wörter auf russisch zu sagen, er tat es, und es klang schön und fremd. Seine Schwester war, kaum volljährig, nach Moskau gegangen, und es war ein Schock für seine Eltern gewesen.
    Für sie musste es so aussehen, als

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