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Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Mingels
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verurteilte sie ihre Lebensentscheidung, sagte Frank. Dass sie ihr Land verlassen hatten, geschah für uns, ihre Kinder, und nun machte meine Schwester das alles rückgängig.
    Es nutzte nichts, dass die Schwester beteuerte, sie sei dankbar und das Leben in Russland in vielem härter. Es half auch nicht, dass sie drei Jahre später mit ihrem russischen Ehemann Jacub zurück nach Deutschland kam. Die Beziehung zu ihren Eltern blieb gestört. Der Vater hatte inzwischen seine Stelle als Automechaniker verloren, nun wartete er auf die Frührente, während seine Frau weiterhin als Drogistin arbeitete und Frank Tiefkühlkost auslieferte, um sein Studium zu finanzieren.
    Du warst ein BoFrost -Mann?, fragte Esther neckend.
    Auf mich warteten eine Menge einsamer Hausfrauen, entgegnete Frank mit vielsagender Stimme.
    Esther stützte sich auf die Ellbogen, um ihn besser anschauen zu können.
    Tatsächlich?
    Sie lachte, gleichzeitig bemerkte sie einen Stich der Eifersucht.
    Frank fasste mit beiden Händen nach ihren Handgelenken, führte sie über ihrem Kopf zusammen und drückte sie auf die Matratze. Ich muss aussehen, als ergäbe ich mich, dachte Esther und versuchte Franks Hände abzuschütteln. Vergeblich. Er sagte, ja, tatsächlich, dann küsste er ihren Mund, ihre Schultern und Brüste, er hielt immer noch ihre Handgelenke umklammert, und sie dachte, ich ergebe mich.
    Später erzählte sie von ihrer Kindheit, dem Haus am See, der spiegelblanken Fläche, in die sie von ihrem Kinderzimmer aus eintauchen konnte – nicht wirklich, natürlich, aber sie stellte es sich oft vor, wenn sie aus dem Fenster blickte und der See glatt und schwarz unter ihr lag. Sie erzählte von der Trennung der Eltern, dem Glück, dass sie mit ihrer Mutter in dem Haus bleiben konnte, auch wenn die Hälfte der Möbel abgeholt wurde, an einem Herbsttag in dem Jahr, als sie die Schule beendete: Sie war vom Sportunterricht nach Hause gekommen, hatte sich in den Vorgarten gesetzt und dabei zugesehen, wie das Sofa, einer der weinroten Ohrensessel, der Esstisch samt Buffet, aber ohne die dazugehörigen Stühle, der Kleiderschrank, das Klavier, der Teewagen aus Teakholz, der als Hausbar gedient hatte, der Schreibtisch und der Bürostuhl abtransportiert wurden.
    Ich saß die ganze Zeit da, während die Möbelpacker reinund rausgingen, sagte sie. Sie grüßten kurz, dann ignorierten sie mich. Meine Mutter war nicht zu sehen, wahrscheinlich hatte sie sich ins Schlafzimmer zurückgezogen. Als sie fertig waren, winkte mir einer der jüngeren Arbeiter zum Abschied zu, er hatte rote Haare, die sich mit dem Violett des Overalls bissen.
    Sie lachte.
    Jean hat auch rote Haare, weißt du, ich mag das, es sieht so übermütig aus und auch ein bisschen verletzlich. Vielleicht weil es so viele Schimpfwörter für Rothaarige gibt.
    Sie überlegte kurz, dann sagte sie leise: Rotfuchs.
    Feuerkopf, Kupfermond, warf Frank ein, Hexenzahn.
    Sie habe, erzählte Esther, Jean in dem Hotel kennengelernt, in dem sie ihre Ausbildung begonnen hatte. Sie sei Anfang zwanzig gewesen, er fast vierzig.
    Ja, stell dir vor: Neben dir liegt eine richtige Hotelfachfrau. – Na ja, fast. Ich habe die Ausbildung nicht beendet.
    Jean sei Gast gewesen in dem Hotel. Er war auf der Durchreise, sagte sie. Er wollte eigentlich nur zwei Tage in Deutschland bleiben, dann zurück nach Brüssel, wo er mit seiner Familie lebte. Er und seine Frau hatten zwei fast erwachsene Söhne, von denen der ältere taub war. Darum beherrschte Jean auch die Zeichensprache. Als er nach vier Tagen abreiste, sagte er ihr auf diese Weise etwas, das sie nicht verstand. Was heißt das?, hatte sie gefragt, aber er wollte es nicht verraten.
    Bis heute nicht, sagte sie. Wahrscheinlich bedeutete es: Ich liebe dich. Oder: Auf bald.
    Sie drehte sich von Frank weg.
    Aber eigentlich, murmelte sie, war es dafür zu lang.
    Sie überlegte, dann sagte sie leise: Vielleicht hieß es: Wir Belgier verehren die deutschen Frauen für ihre Kochkünste.
    Sie schnaubte ins Kissen.
    Oder: Mein Zug fährt gleich ab, wie komme ich zum Bahnhof?, schlug Frank zaghaft vor. Esther lachte.
    Und ich habe ihn nicht verstanden und ihm darum nicht den Weg erklärt!
    Nun lachten sie beide, und wenn sie aufhörten, machte einer von ihnen einen neuen Vorschlag – er hat sich über die Sauberkeit in dem Zimmer beschweren wollen, er fand die Preise überhöht –, und sie mussten von Neuem lachen.
    Vielleicht hat er dir sagen wollen, dass er dich eigentlich

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