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Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Mingels
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Kragen des dunklen Hemdes überlappte das schmale Revers. Er hatte etwas Ungepflegtes an sich. Esther wusste nicht, ob es an seiner Kleidung lag oder nur an der Art, wie er sie trug. Das Hemd ungebügelt, die Jacke zu eng, die Hose gerade um so viel zu kurz, dass es noch keine Hochwasserhose war. Alles ein wenig nachlässig, ein wenig derangiert. Sein Namensschildchen auf der linken Brusttasche war schief angebracht. Esther legte den Kopf schräg, um es zu lesen, den Titel, den Vornamen, den Nachnamen, der sie an etwas Süßes – Kuchen oder Kekse – denken ließ. Er schaute sich um, ob ihn alle am Tisch verstehen konnten, es war offensichtlich, dass er die gleiche Erklärung nicht mehrfach abgeben wollte. Die Gespräche verebbten eins nach dem anderen, langsam, doch unbeirrbar, wie Badewasser im Abfluss verrinnt.
    Vielleicht sind Ihnen meine kurzen Schlafanfälle bereits aufgefallen, sagte Henner. Sein Blick wanderte zu Johan Mortimer und von da aus zum Spanier, den Rednern des Vormittags.
    Ich möchte Ihnen versichern, dass ich nicht gelangweilt war.
    Mortimer biss die Zähne zu einem breiten, unfreundlichen Lächeln zusammen, während der Spanier mit missbilligend hochgezogenen Brauen auf Henners Erklärung wartete.
    Ich habe ganz einfach Narkolepsie, sagte Henner. Eine neurologische Krankheit, bisher nicht sehr gut erforscht, obwohl beileibe nicht so selten, wie man meinen sollte.
    Er hatte den Kaffeelöffel in die Hand genommen und schlug damit leicht in die andere Handfläche, bevor er ihn vorsichtig zurück auf die Untertasse legte.
    Wie ich schon sagte, begann er wieder und blickte die rechts von ihm sitzende Lone so unwillig an, als hätte sie ihm widersprochen, Narkolepsie ist eine neurologische Erkrankung, keine psychische, auch keine Faulheit, schlichte Übermüdung oder Ähnliches. Ich meine, ich feiere nicht jede Nacht.
    Er brachte ein kleines, selbstironisches Lächeln zustande, und Esther nickte pflichtschuldig.
    Hatte nicht auch Napoleon diese Krankheit?, ließ sich einer der Schweizer Professoren vernehmen. Und Lenin?
    Ja, stimmte Henner eifrig zu. Man sagt sogar, dass Napoleon nur deshalb die Schlacht von Waterloo verloren habe, weil er eingeschlafen sei.
    Was ja in der Tat einer kriegerischen Höchstleistung hinderlich sein kann, spottete Frank, und Esther blickte gespannt auf Henner, um zu sehen, wie er diese Bemerkung aufnehmen würde. Sie wusste, dass sie sich für Frank schämen würde, wenn Henner verletzt wäre. Sie fragte sich nicht, warum das so war.
    Henner sagte: Wohl wahr.
    Die Professorin, mit der er aus Berlin angereist war, hatte ihn, während er sprach, aufmunternd angeschaut. Nun konnte Esther in ihrem Gesicht einen Ausdruck gedämpften Stolzes erkennen. Henner setzte sich wieder. Ohne jemanden anzusehen, nahm er seine Tasse in die Hand und hielt sie sich an die Lippen. Langsam, wie sie verebbt waren, hoben die Gespräche wieder an.
    So habe ich ihn kennengelernt, sagte die Professorin in die Runde und hielt sich an Franks Blick als dem ersten, der ihr begegnete, fest. Er ist in meinem Seminar eingeschlafen und ich habe ihn danach zur Rede gestellt. Ich wusste nichts über die Krankheit, nicht ein bisschen. Er musste mir alles darüber erzählen.
    Sie lächelte seltsam verkniffen, dann besann sie sich einen Moment und deklamierte: Zwar weiß ich viel, doch möcht ich alles wissen.
    Goethe, sagte Frank gelangweilt.
    Ja, sagte sie. Natürlich.
    Sie wirkte, als ob Frank sie zurechtgewiesen hätte.
    Muss er denn Medikamente nehmen?, schaltete sich Esther in das Gespräch ein.
    Sie hatte den Eindruck, etwas retten zu müssen – den Tag, die Harmonie unter den Tagungsteilnehmern. Sie witterte einen Eklat, der sich jederzeit ereignen könnte und der, da war sie ganz sicher, mit Frank zu tun haben würde.
    Ja, sagte die Professorin und sah sie dankbar an. Aber die Krankheit ist nicht heilbar, sie ist bloß im Zaum zu halten, und auch das, wie Sie ja miterlebt haben, nur in bestimmten Grenzen. Es kann vorkommen – die Professorin hatte sich nun ganz Esther zugewandt und ihre Stimme vertrauensvoll gesenkt –, dass er in Momenten großer Freude oder Aufregung in eine Art Ohnmacht verfällt, seine Muskeln geben nach, alle Muskeln, und er ist von einer Sekunde zur anderen bewegungsunfähig. Die Verletzungsgefahr ist da natürlich groß. Stellen Sie sich vor, das passiert ihm beim Überqueren einer Straße. Oder beim Autofahren.
    Frank sagte: Ich habe einmal von einem narkoleptischen

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